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WISSEN

Tages-Anzeiger · Donnerstag, 29. Dezember 2004

Die Doppelrolle der reinen Mathematik

Mathematiker gelten als abgehoben. Ihre Forschung durchdringt jedoch unseren Alltag und immer stärker auch die Militärwissenschaften.

von André Behr

Kurz nach Beginn des Irak-Kriegs schrieb David Eisenbud, der Präsident der Amerikanischen Mathematischen Gesellschaft, einen Brief zuhanden einer Kommission des US-Kongresses. Darin hob er die Nützlichkeit der reinen Mathematik für die Militärs hervor und warb gleichzeitig für die weitere finanzielle Unterstützung der von Budgetkürzungen bedrohten Forschungsinstitute.

Nicht allen Berufskollegen Eisenbuds gefallen solche Anbiederungen. Auch Norbert Schappacher nicht, zurzeit wissenschaftlicher Gast des Collegium Helveticum der ETH Zürich, einer Institution, die Wissenschaft beharrlich kontrovers diskutiert. Der 54-jährige Deutsche forscht wie Eisenbud auf dem Gebiet der reinen Mathematik. Allerdings interessiert ihn ebenso sehr die Mathematikgeschichte. Diese ist Thema eines Symposiums, das zurzeit am Collegium Helveticum stattfindet.

In Kriegssituationen haben sich Mathematiker schon immer einspannen lassen. Neueren Datums sind jedoch direkte Einflüsse militärischer Bedürfnisse auf die mathematische Forschung, während früher im Wesentlichen bekannte Mathematik angewandt worden ist. Diese zunehmende Intimität zwischen Mathematik und Militär lässt sich seit dem Ersten Weltkrieg beobachten, wie die Herausgeber Bernhelm Booss-Bavnbek und Jens Høyrup in ihrem Buch «Mathematics and War» darlegen.

Atombombe und Chiffriertechnik

Der Zweite Weltkrieg hat die Welt verändert - auch die mathematische. Radar, Düsenantrieb, Atombombe, Computer oder Chiffriertechniken konnten nur entwickelt werden, weil die besten Mathematiker mithalfen. Auf allen Seiten. Schappacher erzählt die tragikomische Geschichte, wie der deutsche Zahlentheoretiker Martin Eichler im britischen Gefangenenlager erfahren musste, dass die Engländer dieselben kniffligen Methoden zur Lösung der Differenzialgleichungen gefunden hatten wie Eichler und seine Gruppe in Peenemünde - und so zurückverfolgen konnten, von wo die berüchtigten V-Raketen abgefeuert worden waren.

«Das Phänomen, dem wir heute gegenüberstehen», sagt Schappacher, «ist die Hybridbildung aus Mathematik, Physik und Ingenieurwissenschaft, wie es Moritz Epple treffend formuliert hat.» Die Kriegsindustrie habe sich verselbstständigt. Welche Disziplin beim Bau heutiger Waffen was beisteuert, sei schwierig zu sagen. «Auf jeden Fall steckt mehr und mehr Mathematik drin», sagt Schappacher.

Nachtsichtgeräte

Nachtsichtgeräte: Junge, die mit
Computerspielen gross geworden
sind, können besser damit umgehen.

Ein Beispiel: Auswertungen des jüngsten Irakkriegs haben ergeben, dass von Jungen geführte Einheiten besonders bei Nachtoperationen am erfolgreichsten waren. Gross geworden mit Wargames und anderen Computerspielen, fiel es ihnen leichter als den Alteren, Nachtsichtgeräte oder GPS-Ortung zu bedienen. Jedem leuchtet ein, wie viel mehr Mathematik in Computerspielen involviert ist als etwa in früheren ballistischen Berechnungen.

Eine Million Dollar Preisgeld

«Man kann nie sicher sein, in welchen Anwendungen die eigenen Resultate plötzlich auftauchen», ist sich Schappacher bewusst. Er forscht auf dem Gebiet der algebraischen Geometrie, in der geometrische Objekte mit algebraischen Methoden untersucht werden. Insbesondere arbeitet er im Umfeld der so genannten Birch-und-Swinnerton-Dyer-Vermutung, die vom renommierten amerikanischen Clay Institute zu einem der sieben Millenniumsprobleme erhoben wurde. Wer sie löst, erhält eine Million Dollar Preisgeld. Diese Vermutung ist deshalb so schwierig zu beweisen, weil sie zwei ganze Zahlen als gleich behauptet, die auf völlig verschiedene Weise für dasselbe Objekt definiert sind. Von grossem Interesse ist sie, da mit ihr auf einen Schlag eine Fülle von konkreten zahlentheoretischen Fragen geklärt wären, die seit Jahrhunderten ungelöst in der Mathematik herumgeistern. Unter anderen auch eine der ältesten, das Problem der kongruenten Zahlen.

Eine ganze Zahl heisst kongruent, wenn sie Fläche eines rechtwinkligen Dreiecks ist, dessen drei Seiten rationale Zahlen, also Brüche, sind. Ein einfaches Beispiel ist die Zahl 6. Sie ist die Fläche des rechtwinkligen Dreiecks mit den Seiten 3, 4 und 5. Zu entscheiden, ob eine gegebene ganze Zahl kongruent ist, kann schnell äusserst kompliziert werden. Das illustriert die Zahl 157. Sie ist kongruent, doch der Hypotenuse des zugehörigen Dreiecks entspricht ein Bruch, dessen Zähler und Nenner 5o bzw. 46 Stellen haben.

So paradiesisch die Welt der Mathematik sein kann, wenn man den Zugang gefunden hat, für Schappacher ist klar, dass sich auch Mathematiker Gedanken machen sollten, die über die eigenen Forschungen hinausgehen. Sein hohes Idealbild ist das eines Intellektuellen, der an aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen teilnimmt.

ZUR PERSON

Norbert Schappacher

Norbert Schappacher Geboren 1950 in Essen, kam Norbert Schappacher untypisch spät zur Mathematik. Als Schüler des Humanistischen Gymnasiums hatte er sich mehr für Philosophie und Sprachen begeistert und war morgens eine Stunde früher zur Schule gegangen, um Freifächer wie Hebräisch zu belegen. An der Uni in Göttingen pflegte er seine philosophischen Interessen weiter, studierte im Hauptfach jedoch Mathematik.

Schon in Göttingen beschäftigte sich Schappacher auch mit der Geschichte der Mathematik, etwa der Rolle seines berühmten Instituts während des Nationalsozialismus. Heute interessieren ihn ganz allgemein historische Prozesse und geopolitische Einflüsse auf Ideen und Sichtweisen der Mathematiker. «Über Jahrhunderte hat sich die Mathematikgeschichte kurioserweise auch innerhalb der Wissenschaftsgeschichte abgekapselt. Wie die Mathematik innerhalb der Wissenschaften.» In jüngerer Zeit wird versucht, die Lehren der Geschichte der Laborwissenschaften auf die Mathematikgeschichte zu übertragen. (be.)

«Mathematikern fällt diese doppelte Rolle vielleicht schwerer, weil sie ein ausgeprägtes Rationalitätsmuster haben. Die Institution des Beweises ermöglicht ihnen untereinander standardisierte Debatten, in denen ein viel höherer Konsensgrad erzielt wird, als es in politischen Fragen möglich ist.»

Auch Norbert Schappacher verunsicherten Ereignisse wie der Fall der Mauer, der Balkan- oder der Irak-Krieg. Sie haben ihn nicht zu einem politisch engagierten Mathematiker gemacht, aber sensibilisiert. Weniger PR-Aktionen in eigener Sache seien heute angebracht, dafür Anstrengungen, um «die Zugbrücke zwischen der Mathematik und dem Rest unserer Kultur herunterzulassen. Damit die offensichtliche Diskrepanz zwischen Mathematik und dem öffentlichen Vakuum abnimmt.»

Bernhelm Booss-Bavnbek und Jens Høyrup (Hg.): «Mathematics and War». Birkhäuser-Verlag 2003. 6o Fr.

Am Collegium Helveticum in der Semper-Sternwarte Zürich steht ab heute Donnerstagnachmittag bis morgen Freitag das Thema «Mathematik und Krieg» zur Debatte.

www.collegium.ethz.ch.