Neue Zürcher Zeitung

FORSCHUNG UND TECHNIK

Mittwoch, 12. Januar 2005 · Nr.9


Die Welt
ist nicht aus den Fugen

Irreführende Meldungen zur Erdachse

bt. Wenige Tage nach dem Seebeben westlich von Sumatra, das mit seinen Flutwellen an vielen Küsten unvorstellbares Leid gebracht hat, sind manche Medienkonsumenten erneut aufgeschreckt worden. Das Beben, so berichteten Astronomen, habe die Erdachse um 8 Zentimeter verschoben. Allerdings hiess es sogleich, negative Konsequenzen könnten ausgeschlossen werden, und mancherorts war auch vermerkt, dass sich die Achse auch an «normalen» Tagen bis zu 10 Zentimeter verschieben könne. So stellte sich rasch die Frage, was denn aussergewöhnlich sei. Und in der Tat ergaben Nachfragen, dass es sich mehr um eine wissenschaftliche Randnotiz denn um eine für die Allgemeinheit relevante Neuigkeit handelte. Zwar glauben die Wissenschafter tatsächlich, dass vermutlich erstmals eine Verschiebung beobachtet werden konnte, die sich auf ein Ereignis allein zurückführen lasse. Eine genaue Analyse, wie viel der 8 Zentimeter Abweichung von der mathematischen Extrapolation des Verlaufs tatsächlich dem Beben vor der Küste Acehs - mit einer Magnitude auf der Richter-Skala von 9 das grösste seit 1964 - zuzuschreiben ist, liegt aber noch nicht vor.

Verschiebungen der Erdrotationsachse relativ zur Erdkruste (beziehungsweise der beweglichen Erdkruste relativ zur Rotationsachse, denn deren Lage verändert sich in Bezug zur Sonne dadurch im Wesentlichen nicht) finden ständig statt. Innert 430 Tagen bewegt sich der Achspunkt an den Polen - sowohl im Norden wie im Süden - in unregelmässigen Bewegungen relativ zur Erdoberfläche in einer Art Kreis von etwa 15 Metern Durchmesser. Dies lässt sich heute mittels des 1993 in Betrieb genommenen International GPS Service (IGS) millimetergenau vermessen. Erdbeben und die damit einhergehenden Masseverschiebungen in der abgeplatteten Erdkugel sind aber nur einer von vielen Gründen für Masse- und damit Formveränderungen unseres Planeten, die immer auch dessen Rotation beeinflussen. Andere sind Wasserbewegungen in den Meeren, zum Beispiel als Folge der Gezeiten, oder vor allem Verschiebungen in der Atmosphäre, wo Windsysteme mit Hoch- und Tiefdruckgebieten zu Gewichtsverlagerungen führen - wie jede andere Masseverschiebung auch. Wie viel nun der am 26. Dezember beobachteten Bewegung der Achse auf solche der Wassermassen oder der Atmosphäre zurückzuführen ist, lässt sich noch nicht sagen. Im Astronomischen Institut der Universität Bern, einem der weltweit sieben Analysezentren, in denen Daten für den IGS berechnet und bereitgestellt werden, geht man davon aus, dass dies frühestens in einigen Monaten klar sein wird. Und man sieht im Nachhinein, dass die vor einer Woche verbreitete Pressemitteilung besser etwas vorsichtiger formuliert worden wäre.


Zwei Amerikaner zum Beispiel, die seit längerem die Auswirkungen von Erdbeben auf die Erdrotation berechnen, sind der Ansicht, dass die Störung, die vom Sumatra-Beben auf die Erdrotation ausgegangen ist, nur knapp nachweisbar sein dürfte. Sie weisen in einer ersten Evaluation darauf hin, dass eine Analyse der letzten über 21 000 Erdbeben seit 1977 mit einer Magnitude grösser als 5 keine einzeln feststellbaren Wirkungen zeitigten. Gesamthaft hätten diese interessanterweise aber die Tendenz gehabt, die Erde runder und kompakter zu machen. Diese Veränderung der Masseverteilung liess als Folge der Drehimpulserhaltung und der dadurch beschleunigten Rotation übrigens auch die Tage minim kürzer werden.

Mit heutiger Technik messbar gewesen wären dagegen wohl die entsprechenden Folgen der extrem starken Erdbeben 1960 in Chile und 1964 in Alaska - damals fehlten aber geeignete Beobachtungsmethoden. Laut den Abschätzungen der zwei Amerikaner dürften die seismischen Auswirkungen des Bebens in Chile mit einer Magnitude von 9,5 den Nordpol der Rotationsachse etwa 70 Zentimeter in Richtung 115 Grad Ost gerückt und die Tage um 8 Millionstelsekunden kürzer gemacht haben. Die Wirkung hängt jedoch nicht allein von der Stärke des Bebens ab, auch dessen Richtung und Nähe zum Pol sind wichtige Grössen. Für das Seebeben von Sumatra errechnen sie eine Verschiebung der Achse im Norden um 2,5 Zentimeter in Richtung 145 Grad Ost, eine Verkürzung der Tage um 2,68 Millionstelsekunden und eine Reduktion der Erdabplattung um knapp einen Hundertmilliardstel. Nachweisbar dürfte jedoch einzig die Achsenverschiebung sein. Die Auswertung der Daten vom Seebeben verschafft der Wissenschaft nun die seltene Chance, diese und andere Modelle zu validieren.