64  Mittwoch, 17. Mai 2006 · Nr.113

MENSCH UND ARBEIT

Neue Zürcher Zeitung


Ein Gehirn wie ein Ferrari

Hochintelligente wollen mehr vom Leben als die steile Karriere

Menschen mit aussergewöhnlich hohem Intelligenzquotienten sind selten eingleisig orientiert. Ihre berufliche Laufbahn ist deswegen nicht immer geradlinig auf Karriere ausgerichtet. Oft sind Schnelldenker auch ungeduldige Leute, und am ungeduldigsten sind sie mit sich selbst.

Die Idee kommt beim Reden wie der Appetit beim Essen, erklärt uns der Dichter Heinrich von Kleist. Um aber «in der Werkstätte der Vernunft» aus einer vagen Vorstellung einen klaren Gedanken zu fabrizieren, empfiehlt er, sich Zeit zu schaffen, die Rede in die Länge zu ziehen, unartikulierte Töne einzumischen oder mit Verbindungswörtern den Satz auszudehnen. Kleist war bestimmt kein Dummerchen. Die Rede von Joachim Klement sprudelt jedoch ungebremst wie ein Bergbach und ist gleichzeitig so schlüssig wie mathematische Formeln. Klement ist nicht nur ein Schnellredner; er ist ein Schnelldenker, geprüft und beglaubigt. Er ist Mitglied eines Vereins von Hochbegabten. Dieser heisst «Mensa». Voraussetzung für die Aufnahme ist das Bestehen eines Intelligenztests. Wer mit einem IQ unter 130 antritt, hat keine Chance.

Prestigeträchtiger Besitz

«Aber diese Form von Intelligenz ist nichts Besonderes», will Klement gleich zu Anfang festgestellt haben. So besonders vielleicht wie die Idealmasse von Heidi Klum? Auf den ersten Blick fällt die Geistesgabe zwar weniger auf als die körperliche, obwohl Klement durchaus auch physisch agil wirkt. Im Gespräch schlägt sie jedoch umso deutlicher durch, und ebenso sehr, wie unsere Gesellschaft auf Körper jenseits der Norm reagiert, reagiert sie eben auf Menschen mit überdurchschnittlicher Intelligenz.

In der Schule werden sie als Streber gehänselt und sie schützen sich zuweilen davor, indem sie den weniger Schnellen den Vortritt lassen. Oder sie geben extra falsche Antworten, nur um als normal zu gelten. Im Erwachsenenumfeld läuft, wer den anderen immer eine Nasenlänge voraus ist, Gefahr, als arrogant abgestempelt zu werden. Oder es verstummen plötzlich die Gesprächspartner, eingeschüchtert von Geschwindigkeit und Treffsicherheit des Gegenübers. Und natürlich gibt es Neider. Sein Gehirn vergleicht Klement mit einem Ferrari, und wer einen Ferrari besitzt, nennt etwas Prestigeträchtiges sein eigen.

Aber Alltag bedeutet auch für Ferraris überfüllte Strassen, und im Stau ist ein Golf das wesentlich bequemere Gefährt. So müssen sich Menschen wie Klement im beruflichen Einerlei zuweilen zurückhalten. Mit heulendem Motor und als Drängler im Genick der Langsameren? Der Umgang mit ihm sei nicht immer einfach, gesteht er. Seine Geduld werde zuweilen etwas strapaziert. Doch nicht nur er, sondern auch andere aus der dünnen Schicht der Hochbegabten betonen, dass sie am ungeduldigsten mit sich selber seien, dass sie «Effizienzfanatiker» oder «Perfektionisten» seien und sich selbst am meisten unter Druck setzten.

Keine linearen Karrieren

Leute mit den aussergewöhnlichen Fähigkeiten im mathematischen, abstrakt-logischen Denken wie Klement machen etwa zwei Prozent der Bevölkerung aus. «Mensa» zählt in der Schweiz rund 750 Mitglieder, die - von der Anästhesieschwester bis zum Zoologen - eine beeindruckende Vielfalt von Berufen vereinen. Durchforstet man aber die Liste, stösst man lediglich auf fünf Selbstdeklarationen von CEO und zwei von Executive Vice Presidents. Ist eine überdurchschnittliche Intelligenz einer linearen Karriere unter Umständen hinderlich?

Während Klement seine Dissertation in theoretischer Astrophysik schrieb, leitete er eine Internet-Stellenbörse. Zwar eine Nonprofit-Organisation von ETH-Studenten, dennoch war unternehmerisches Denken und Handeln angesagt. Im Laufe von drei Jahren verschob sich das Interesse Klements immer mehr Richtung Wirtschaft. Anstatt die Dissertation zu beenden - «das interessierte ohnehin nur fünf Menschen auf der Welt» -, stürzte er sich in ein wirtschaftswissenschaftliches Studium. Noch vor fünf Jahren habe er rein gar nichts von Investment verstanden. Heute analysiert und entwickelt er in einem Strategieteam einer Schweizer Grossbank nicht-traditionelle Anlageklassen wie Rohstoffe und Immobilien.

Er sei von einem unstillbaren Wissensdurst getrieben, erklärt Klement den Wechsel von der Astrophysik hin zur Wirtschaft. Deswegen dürfte dieser Wechsel auch nicht der letzte in seinem Leben gewesen sein. Klement liebäugelt mit einem Kunststudium - «nach der Pensionierung oder auch schon früher».

 


Auch ausserberufliche Interessen

Hochintelligente, so scheint es, sind Menschen mit vielen Interessen. Deswegen brauchen sie aber keine beruflichen Chamäleons zu sein. Die Vizepräsidentin von «Mensa» Schweiz, Una Zwahlen, ist felsenfest davon überzeugt, das Richtige für sich gefunden zu haben. Sie hat in St. Gallen zu den Ersten gehört, die Informations-Management studiert haben, und dem Organisieren von Projekten an der Schnittstelle zwischen IT und Recht, zwischen Informatikern und Bankern gehört ihre ganze berufliche Leidenschaft.

Zwar blüht auch sie auf, wenn sie mit ihrem «Ferrari» Vollgas geben kann. «Aber ich mag Phasen der Routine», schränkt sie ein. Nach sechs Jahren der beruflichen Selbständigkeit steht sie kurz vor dem Eintritt in ein Anstellungsverhältnis - ebenfalls bei einer Grossbank: «Die Sache mit der Selbständigkeit hat sich für mich erschöpft», meint sie. Erschöpft ist aber auch sie selbst. Als Unternehmerin habe sie 60 bis 70 Stunden die Woche gearbeitet. So etwas treibt auch eine Hochintelligente an den Rand des Burnouts. Una Zwahlen kann sich im Leben zudem noch anderes vorstellen, als nur zu arbeiten. «Eine Familie vielleicht?», sinniert sie.

Sie hätte das Zeug für eine steile Karriere in der Linie, sie hätte auch den «Killerinstinkt», den es im Topmanagement braucht, sagt sie. Bewiesen hat sie es, als sie ihr Unternehmen durch die Krise nach dem 11. September 2001 geführt und schmerzliche Entscheidungen gefällt hat. «Aber wie hoch wäre der Preis für die Karriere ganz nach oben?», fragt sie rhetorisch zurück. Vorderhand engagiert sie sich stark im Verein. Den IQ-Eintrittstest hat sie übrigens aus Trotz gemacht, weil ihr früherer Mann, selbst «Mensa»-Mitglied, behauptet hatte, schlauer als sie zu sein.

Die Qual der Wahl

Mensaner seien in der Regel vielfältig orientiert, fast Una Zwahlen zusammen. Aber wem theoretisch sämtliche Türen offen stehen, dem fällt es umso schwerer, sich zu entscheiden. Ein Problem, von dem Esther Mettler zu berichten weiss. Während sie von ihrem Leben erzählt, faltet die 30-Jährige Prospekte der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Agrarökologie und Landbau in Zürich Reckenholz. Sie, die durch Zufall von «Mensa» gehört und den Eintrittstest mit Brillanz absolviert hat, betreut das Sekretariat der Anstalt, worunter auch etwas Marketing und Kommunikation fällt. Darüber hinaus aktualisiert sie die Homepage und amtet als stellvertretende Direktionssekretärin. Ob sie diese Tätigkeit ausfülle? «Nein», fällt die Antwort nach kurzem Zögern. Mettler hat ihre Kindheit in Indonesien verbracht und ist erst als 18-Jährige in die Schweiz zurückgekommen.

Nach der Berufsmatura hat sie eine kaufmännische Lehre und eine Ausbildung als PC-Supporterin absolviert. Eigentlich sei es nun Zeit für ein Studium, konstatiert sie. Nur, welches Fach sollte sie wählen? Ihre Vorstellungen schwanken zwischen Meeresbiologie und Tiermedizin einerseits, Mathematik und Informatik andererseits. «Die Crux ist: Ich kann alles machen, was ich mir in den Kopf setze», erklärt sie. Die Folge davon ist Ratlosigkeit. Weniger Begabten hilft das Ausschlussverfahren. Die Hochbegabten schwimmen im uferlosen Meer unbeschränkter Möglichkeiten.

Wofür auch immer sie sich entscheiden werde, es sollte mehr als nur eine Sekretariatsstelle daraus resultieren, betont Mettler. Verständlich. Nur ist bei einer Bewerbung der Hinweis auf die Hochbegabung unter Umständen ebenfalls kontraproduktiv. Kein Mensaner würde seine Mitgliedschaft im Curriculum festhalten, erklären Klement, Zwahlen und Mettler übereinstimmend. So etwas könne einem leicht als Angeberei ausgelegt werden. Unter Umständen würden auch die Ansprüche steigen, wenn der Chef es wüsste, schmunzelt Klement. «Und was würde wohl passieren, wenn ihr potenzieller Arbeitgeber den <Mensa>-Test versucht, aber nicht bestanden hat?», gibt Mettler zu bedenken.

So müssen Hochintelligente mit ihren Fähigkeiten in der Berufswelt zuweilen diplomatisch umgehen. Gleichzeitig eröffnen sie ihnen Perspektiven, die zu verwirklichen ein Leben allein nicht auszureichen scheint. Doch zu guter Letzt liegt auch ihr Glück nicht einzig auf der geistigen Rennstrecke: Esther Mettlers grösster Ehrgeiz besteht zurzeit darin, am härtesten körperlichen Wettbewerb überhaupt, am diesjährigen «Iron Man», mitzumachen. Und Joachim Klement gesteht, von den Bildern des Künstlers Yves Klein zu Tränen gerührt worden zu sein, von einem vibrierenden, unfassbaren Blau, resistent gegen jede logische Durchdringung.

Ronald Schenkel

Informationen zum Verein und ein Probetest von «Mensa», unter www.mensa.ch.

Ein «Superhirn» am Arbeitsplatz - so nützlich wie ein Ferrari im Stau?