In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist man in Frankreich und Spanien erstmals auf Kleinkunstwerke, das heisst Gravierungen und Skulpturen auf oder aus Stein und organischem Material, gestossen, die von Menschen der letzten Eiszeit stammen mussten. Bald darauf wurden in Frankreich und auf der Pyrenäenhalbinsel auch tief im Innern von Höhlen Belege für Felskunst in Form gravierter und gemalter Darstellungen von Tieren entdeckt, die zum Teil nur zur Eiszeit in Europa lebten. Behindert wurde die Erforschung dieser Werke, die von manchen ihrer Entdecker von Anfang an späteiszeitlichen Jägerbevölkerungen vom Typus des Homo sapiens sapiens zugeschrieben wurden, durch das Misstrauen, das ihnen andere Gelehrte entgegenbrachten. Was die Kleinkunst betrifft, wollte man nicht glauben, dass lange vor der Zeit der Griechen und Römer «primitive Steinzeitmenschen» so vollendete Tierbilder schaffen konnten; bei der Höhlenkunst kam zudem der Verdacht auf, die Figuren seien das Werk von Klerikern, welche den Naturforschern, die damals die junge prähistorische Wissenschaft förderten, eine Falle stellen wollten, um sie zu blamieren.
Funde von Westeuropa bis in den Ural
Das änderte sich im 20. Jahrhundert. Die immer zahlreicher werdenden Funde liessen die Zweifler verstummen, und die wissenschaftliche Erforschung der Eiszeitkunst wurde intensiviert. Belege für Kleinkunst fanden sich nun auch in Mittel- und Osteuropa, selbst Sibirien lieferte interessantes Material. Das Zentrum der Felskunst blieb im Westen Europas, aber Ausläufer wurden in Italien, Mittel- und Osteuropa, ja sogar im Ural lokalisiert. Die sich immer weiter entwickelnden Möglichkeiten der Altersbestimmung liessen vermuten, dass die Eiszeitkunst grosso modo in die Zeit zwischen 30 000 und 10 000 v. Chr. eingestuft werden müsse. Viel diskutiert wurde die Bedeutung dieser Hinterlassenschaft unserer eiszeitlichen Vorfahren. Abgesehen von der vorherrschenden Annahme, dass religiöse und magische Vorstellungen eine wesentliche Rolle gespielt haben, ist man jedoch zu keinem einheitlichen und endgültigen Ergebnis gekommen. Inzwischen haben zahlreiche wissenschaftliche und populäre Veröffentlichungen sowie der auch in diesem Bereich nicht problemlose Tourismus die Fundstellen weitherum bekannt gemacht. Immer wieder fand man neue Kleinkunstwerke, oftmals direkt an den Siedlungsplätzen von Menschen der späten Altsteinzeit (Jungpaläolithikum), oder Felskunst in den von ihnen aufgesuchten Höhlen.
Im Dezember 1994 wurde dann mit der Entdeckung der Grotte Chauvet im südfranzösischen Département Ardèche, nordwestlich von Avignon, unfern der Gemeinde Vallon-Pont-d'Arc, einer der wichtigsten Funde im Bereich der seit 150 Jahren erforschten Eiszeitkunst gemacht. Die Entdeckung ist sehr bemerkenswert, weil es erstens praktisch sicher ist, dass die Höhle seit Ende des Eiszeitalters vor 10 000 Jahren bis zu ihrer kürzlich erfolgten Wiederentdeckung nicht mehr von Menschen betreten worden ist. Zweitens führten Altersbestimmungen zur Hypothese, dass die Entstehung ihrer , überaus interessanten Malereien und Gravierungen früher angesetzt werden muss, als dies aufgrund der stilistischen Gegebenheiten angenommen werden könnte. Drittens schliesslich hat man die Fundstelle sofort gegen unbefugtes Betreten gesichert. Sie wird nun von einer Equipe von Experten systematisch erforscht.¹´²
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Interessenkonflikte
Eine Dreiergruppe erfahrener französischer Speläologen unter der Leitung von Jean-Marie Chauvet hatte bei der systematischen Suche nach Höhlen in der Ardèche 1994 einen schmalen Einstieg in die Grotte gefunden, der sich durch einen Luftzug verriet. Der ursprüngliche Zugang war seit Urzeiten verschüttet. Nach der ersten Begeisterung über die grossartige Entdeckung kam es aber leider zu unerfreulichen gerichtlichen Auseinandersetzungen: Die Grundeigentümer kämpften gegen den Staat, der mit Enteignung drohte, die Entdecker klagten, nicht zuletzt wegen der unverzüglichen Veröffentlichung von Bildreportagen, auf Gewinnbeteiligung. Die lokale Bevölkerung wiederum war vor allem daran interessiert, Touristen anzulocken. Zum Glück konnten inzwischen Lösungen gefunden werden, die vor allem verhindern, dass, wie zum Beispiel in der Höhle von Lascaux in der Dordogne, die einzigartige Hinterlassenschaft jungpaläolithischer Menschen durch zu viele Besucher einer Gefährdung, wenn nicht der Vernichtung ausgesetzt ist. Die Höhle, die nach ihrem Entdecker benannt wurde, ist heute gut gesichert. Sie kann nur von Fachleuten in Begleitung von Mitgliedern der Forschungsgruppe Chauvets besucht werden.
Die Höhle befindet sich unfern des natürlich entstandenen Felsbogens, Pont d'Arc genannt, welcher sich über die Ardèche, einen Nebenfluss der Rhône, spannt. Dessen Form erinnert an ein Mammut, was schon den Eiszeitmenschen aufgefallen sein mag. Der heute benützte Höhleneingang öffnet sich rund hundert Meter über einem ehemaligen Mäander der Ardèche in einer Felswand aus Kalkstein. Der Grundriss der Höhle ist verhältnismässig einfach und weist nur wenige Seitengalerien auf. Heute ist sie bis 210 Meter in den Berg hinein zugänglich, das Gesamtausmass der für Felsbilder verwendbaren Wandpartien beträgt 493 Meter. Die Höhle umfasst niedrige Passagen bis zu gewölbeartigen Erweiterungen. Um sie begehen und erforschen zu können, sind mit grossem Aufwand schmale metallene Gehstege eingebaut worden, die es erlauben - bisweilen in gebückter Haltung -, an alle wichtigen Stellen zu gelangen, ohne in Kontakt mit dem Boden, der Decke oder den Wänden zu kommen. Dadurch können Veränderungen des ursprünglichen Zustandes sowie Beschädigungen der Malereien und Gravierungen durch die Forscher und die wenigen Besucher praktisch ausgeschlossen werden.
Keine Spuren späterer Besucher
Es ist sehr eindrücklich, eine Höhle zu betreten, von der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden darf, dass sie letztmals vor mindestens 10 000 Jahren von Menschen aufgesucht worden ist. Im Gegensatz zu andern Bilderhöhlen finden sich keinerlei Graffiti, Fussspuren oder Zerstörungen der zahlreichen prachtvollen stalagmitischen und stalaktitischen Tropfsteinbildungen, die auf Besucher während des Mittelalters oder in der Neuzeit hinweisen würden. Dagegen lassen überall auf dem Boden verstreute Schädel- und andere Skelettreste von Tieren ebenso wie deren Trittabdrücke und versteinerte Exkremente - vor allem von Höhlenbären, die hier ihren Winterschlaf verbrachten erkennen, dass die Grotte Chauvet in der Eiszeit und auch noch später von ihnen auf irgendwelchen Wegen aufgesucht worden ist. Auch Eiszeitmenschen haben ihre körperliche Anwesenheit dokumentiert: So sind ganz hinten eindeutige Fussabdrücke Jugendlicher zu erkennen, und verschiedenenorts gibt es Ansammlungen roter Flecken, die darauf beruhen, dass Farbe mit dem Handteller auf den Fels appliziert wurde, wobei gelegentlich auch Fingeransätze und selten gauze Hände erkennbar sind; vereinzelt gibt es liegen gelassene Steinwerkzeuge; und schliesslich können Russspuren festgestellt werden, die zeigen, dass man Fackeln zur Beleuchtung benützte; Feuerstellen dienten, abgesehen von ihrem Nutzen als Licht- und Wärmequellen, offenbar daze, Holzkohle als Grundlage für schwarze Farbe zu erzeugen. Nichts weist aber auf eine Benützung der Höhle als Wohnstätte hin. Vielmehr legt auch der Umstand, dass der vordere Teil der Höhle mehrheitlich rote, der hintere schwarze Figuren aufweist, eine .Benützung als Sanktuarium nahe.
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Hunderte von Tierbildern
Wie in andern Bilderhöhlen lassen sich auch in der Grotte Chauvet drei Kategorien von Darstellungen unterscheiden: sogenannte Zeichen in grosser Zahl, aber im Allgemeinen nicht deutbar, darunter etliche, die mit Vorbehalt als «Insekten» bezeichnet werden. Hinweise auf Menschen gibt es, abgesehen von den «Punkt-Händen», praktisch nur in Form von Vulvendarstellungen. Tierfiguren sind in der vorderen Hälfte der Höhle noch relativ selten, von der Mitte an bis ganz zuhinterst aber massiert. Neben einer beträchtlichen Zahl von Figuren, die vorsichtshalber als «unbestimmbar» ausgeschieden werden, sind es - in der Reihenfolge ihrer Zahl - Feliden (Raubkatzen), Mammuts, Wollnashörner, Wildpferde, Wildrinder, Steinböcke, Cerviden (Hirschartige), Höhlenbären und Moschusochsen. Andere Säuger sind nicht vertreten. Als einziger Vogel ist ein Uhu abgebildet. Fische, Reptilien, Amphibien und bestimmbare Insekten fehlen vollständig.
Die vorherrschenden Grosssäuger sind in der Grotte Chauvet in überaus faszinierender Weise dargestellt. Zum Teil handelt es sich um Gravierungen -entweder in den Fels geritzt oder Fingerzeichnungen auf inzwischen hart gewordenem Lehm. Mehrheitlich sind es aber Malereien, im Allgemeinen nur in einer Farbe, rot oder schwarz, meistens Umrisszeichnungen, manche aber auch mit partieller Einfärbung der Innenfläche. Es ist erstaunlich, mit welch sicherer Hand die Figuren - völlig naturalistisch - ausgeführt sind. Praktisch nirgends finden sich Anhaltspunkte für Verzeichnungen oder Korrekturen. Für die Eiszeitkunst eher ungewöhnlich sind relativ viele szenische Gruppierungen wie gemeinsam jagende Höhlenlöwen oder Nashorn- und Wisentherden, die vermutlich absichtlich so dargestellt sind.
Bei den 72 Feliden handelt es sich, abgesehen von einer Figur, durchwegs um Höhlenlöwen. Da die männlichen Tiere im Gegensatz zu heutigen Löwen keine Mähnen hatten, kann man sie nur aufgrund der Grössenverhältnisse von den weiblichen unterscheiden. Die Ausnahme bildet eine Raubkatze, deren geflecktes Fell sie mit Vorbehalt als Höhlenpanther charakterisiert. Mammuts sind 66-mal nachgewiesen, und zwar fast ausschliesslich im schwarzfigurigen Bereich der hinteren Höhlenhälfte. Wie in andern Bilderhöhlen lassen sie durchwegs die charakteristische Rückenlinie dieser Eiszeitelefanten erkennen: nach hinten abfallend und auf dem Kopf eine als Fettreserve gedeutete beulenartige Verdickung. Die dichte Behaarung ist nirgends angedeutet. Das Gleiche gilt für die Wollnashörner, deren Zahl - 65 - praktisch identisch mit jener der Mammuts ist. Bei manchen fällt die grosse Länge des vorderen Horns auf. Aber dies lässt sich heute auch bei weiblichen Spitzmaulnashörnern in Afrika feststellen. Merkwürdig ist der Umstand, dass mehrere der Nashorndarstellungen ein wie eine Bauchbinde um den Leib herumlaufendes Band aufweisen. Sehr eindrücklich dargestellt sind ferner 40 Wildpferde mit unverkennbaren, struppigen Mähnen. Sie finden sich in zunehmender Zahl vom vorderen bis in den hintersten Teil der Höhle. Bei je etwa der Hälfte von ihnen ist das game Tier oder nur der Kopf beziehungsweise der Vorderkörper abgebildet. Bei den Wildrindern - ausschliesslich hinten in der Höhle - hat man zwischen 31 Wisenten (Bisons) und 10 Auerochsen zu unterscheiden, auch sie völlig naturalistisch wiedergegeben. Bei den 25 Cerviden unterscheidet das Forscherteam 12 Rentiere, 7 Riesenhirsche, 2 Rothirsche und 4 nicht näher bestimmbare Hirschartige.
Die mehrheitlich im vorderen Teil der Höhle und somit mit roter Farbe gemalten Bären, 15 an der Zahl, lassen sich aufgrund eines Knicks zwischen Stirn und Schnauze eindeutig als Höhlenbären identifizieren. Als nächst kleinere Gruppe sind mit 20 Figuren die Steinböcke zu nennen. Bei ihnen ist meist nur der Kopf mit den zum Teil mächtigen Hörnern gemalt oder graviert wiedergegeben. Diese Aufzählung der bisher in der Grotte identifizierten Tierarten beschliessen 2 erst spät in der hinteren Höhlenhälfte erkannte, schwarz gemalte Moschusochsen und die schon erwähnte Lehmzeichnung eines Uhu ebendort.
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