Neue Zürcher Zeitung

FEUILLETON

Mittwoch, 1. März 2004 · Nr.50


Influenza - ein Schreckensszenario

Von Wolfgang Sofsky


 

Die Gesundheitsbehörden bereiten sich seit längerem auf das Auftauchen eines neuen Erregers vor, der sich rasch von Mensch zu Mensch verbreitet. Über entsprechende Überlegungen und Pandemiepläne hat die NZZ immer wieder berichtet und tut es weiterhin in verschiedenen Teilen des Blattes. Der Autor des folgenden Essays hat, unabhängig davon, als Soziologie den schlimmstmöglichen Fall zu imaginieren versucht.

«Als ich in die kleine Stadt Porrentruy kam, glaubte ich mich auf einmal in eine geradezu mittelalterliche Atmosphäre des Schreckens versetzt. Als Erstes sah ich auf dem Bahnhof einen riesigen Stapel neuer Särge. In der Stadt befand sich die gesamte Bevölkerung in einem Zustand der Spannung und der höchsten Nervosität. In den Strassen sah man viele weinende Menschen. Einige klagten um ihre sterbenden Angehörigen daheim, andere fürchteten für ihr eigenes Leben. Die wildesten Gerüchte waren im Umlauf und fanden nur allzu gläubige Ohren.»

Im Sommer 1918, als der junge Militärarzt Henry Sigerist dem Schweizer Armeestab Bericht erstattete, hatte die Spanische Grippe gerade ihren ersten Höhepunkt erreicht. In den Schützengräben der Westfront waren bereits Hundert-tausende Soldaten erkrankt, 43 000 amerikanische GI hatten nicht überlebt. «Todesschiffe» brachten mit den Rekruten auch die Influenza von New York nach Brest. Die Pandemie sollte mehr Menschenleben kosten als der Krieg. Die offizielle Schätzung von über 40 Millionen Toten ist eine konservative Hochrechnung europäischer und amerikanischer Daten. In Ghana tötete das Virus in zwei Monaten fünf Prozent der Bevölkerung, in Westsamoa starben fast zwanzig Prozent, in Indien rund 10 Millionen.


Ein globales Desaster

Unter den 1500 Mikroben, welche den menschlichen Organismus befallen können, ist das Influenzavirus eines der gefährlichsten. Der alljährlichen Grippe fallen weltweit über eine Million Menschen zum Opfer. Aber dieser Tod der Individuen wird kaum bemerkt. Er rechnet zur normalen Verlustquote des Gattungswesens. Die Pandemie eines «Killervirus» indes, mit dessen Mutation viele Fachleute rechnen, könnte die Welt über Nacht verändern. Die Folgen sind nicht absehbar, weil die Eigenschaften des Virus unbekannt sind.

Nur der Mensch unterscheidet zwischen Mensch und Tier, Viren tun dies nicht. Zwar wird zu Recht vor Hysterie gewarnt, doch den schlimmsten Fall wagt man sich kaum vorzustellen. Nach dem fatalsten Szenario wird die Zahl der Toten global auf 180 bis 360 Millionen geschätzt. Die Seuche von 1918 hatte ein grausiges Gesicht. Die Kranken husteten Blut. Wangen, Stirn und Hals liefen bräunlich-violett an, die Füsse verfärbten sich schwarz. Nach ein paar Stunden schnappte der Todgeweihte nach Luft; schliesslich ertrank er, da seine Lungen mit blutigem Schaum voll gesogen waren.



Was wäre, wenn?

ujw. Die Vogelgrippe ist in den letzten Wochen und Tagen näher gerückt. Doch noch scheint das Virus nicht in einer mutierten Variante zu existieren, die von Mensch zu Mensch übertragen würde. Vor dem, was geschehen könnte, wenn es so weit käme, warnen Wissenschafter seit Jahren: Eine Pandemie mit unvorstellbaren Opferzahlen sei zu befürchten. - Angst ist selten ein guter Ratgeber. Aber es bedarf neben hygienischen und medizinischen Vorkehrungen durchaus auch soziologischer Phantasie, die einen nicht kalt lässt. Wer vor einem möglichen Übel die Augen verschliesst, wird, wenn es doch eintreten sollte, umso leichter aus der Fassung gebracht. Das Szenario, das unser Autor skizziert, versteht sich als ein Versuch, dem möglichen Schrecken ins Angesicht zu schauen und den-noch die Fassung zu bewahren. Die soziologische Phantasie muss dabei nichts aus der Luft greifen: Was die Zukunft bringen könnte, hat es in der Vergangenheit schon gegeben.

Wolfgang Sofsky lehrte bis 2000 Soziologie in Göttingen. Seither arbeitet er daselbst als Privat-gelehrter, Autor und politischer Kommentator. Letzte Buchpublikation: «Das Prinzip Sicherheit» (S. Fischer, Frankfurt am Main).



Gegen den plötzlichen Massentod ist die Gesellschaft trotz allen Krisenplänen kaum gewappnet. Den Bestattungsunternehmen fehlen die Särge. In Philadelphia, wo im Oktober 1918 11'000 Menschen starben, mussten Hinterbliebene die Gräber selbst ausheben. Die Totengräber erhöhten ihre Preise auf das Sechsfache. In der städtischen Leichenhalle stapelten sich die Leichen. In Zeiten des grossen Sterbens versagen die Rituale des Abschieds. Je länger die Seuche anhält, desto weniger werden die Toten beachtet. Apathie verdrängt die Trauer. Am Ende werden die Toten in tiefen Gräben verscharrt oder auf Scheiterhaufen verbrannt.

Die Pandemie ist ein globales Desaster. Die Atemluft - das Medium der Ansteckung - kennt keine Grenzen. Quarantäne und Hygiene, diese bewährten Methoden gegen Tuberkulose oder Cholera, taugen gegen die Influenza kaum. Die Schliessung der Flughäfen und die Abriegelung einzelner Landstriche werden den Invasionszug bestenfalls verzögern. Verkehrssperren sind langfristig kaum aufrechtzuerhalten. Die moderne Wirtschaft beruht auf der zügigen Verteilung von Gütern und Nahrungsmitteln. Eine monatelange Unterbrechung würde die Grundversorgung gefährden und vielerorts Plünderungen und Hungerrevolten provozieren.


Schwindende Solidarität

Schmuggel und das Schleusen von Menschen dürften rapide zunehmen, da viele zu den vermeintlich virusfreien Wohlstandsinseln flüchten. Die Ordnungsmacht muss sich lokaler Bürgerwehren bedienen, um den Zustrom abzuwehren. Obwohl sie den Ausnahmezustand selbst verhängt hat, ist die Souveränität der Exekutive in Gefahr. Das Gewaltmonopol erodiert. Polizisten und Hilfskräfte desertieren, weil auch der öffentliche Dienst von der Seuche dezimiert wird. Rasch schlagen Nothilfe, Solidarität und Gastfreundschaft in offene Feindseligkeit um. Jeder Fremde, so die Befürchtung, könnte das Virus einschleppen und noch den letzten Winkel infizieren.

Als Ende Mai 1529 im dichtbesiedelten London das «Englische Schweissfieber» ausbrach, verliess Heinrich VIII. fluchtartig die Hauptstadt. Um dem «Grossen Sterben» zu entgehen, eilte er von Ort zu Ort, bis er sich schliesslich, des unsteten Lebens überdrüssig, in Tytynhangar niederliess und sein Schicksal erwartete. Umgeben von luftreinigenden Feuern, lebte er mit wenigen Getreuen monatelang in Abgeschiedenheit. Die Flucht des Königs hinterliess ein Vakuum der Macht. Die Bauern gingen nicht mehr aufs Feld, Hunger überzog das Land, und die Influenza griff alsbald von der Insel auf den Kontinent über.


Auf Abstand

Heutzutage bietet auch die Einsamkeit keine sichere Zuflucht. Zwar werden Grossveranstaltungentungen wie Sportwettkämpfe, Wahlkampagnen oder Popkonzerte umgehend abgesagt. Züge und Strassenbahnen bleiben in den Depots, viele Dienstleistungen werden eingestellt. Restaurants, Hotels, Kinos und Kaufhäuser sind geschlossen. In Behörden und Fabriken ruht die Arbeit. Wer keine Vorräte gehamstert hat, ist auf die Rationen der Lokalverwaltung angewiesen. Die Warteschlangen vor den Ausgabestellen dehnen sich über mehrere Strassenzüge. Die Menschen betreten die Öffentlichkeit nur noch mit Mundtüchern und halten weiten Abstand zueinander. Gesten ersetzen die Gespräche. Die Furcht vor Ansteckung treibt sie auseinander. Jeder wird zum Feind eines jeden anderen. Denn jeder kann den Tod in sich tragen.

Nur in den Spitälern drängen sich die Menschen. In den Kliniken fehlt es an Betten, Pflegern und Medikamenten. Mangels Produktionskapazität wird in den allermeisten Ländern monatelang kein Impfstoff zur Verfügung stehen. Aber auch in den entwickelten Nationen ist die medizinische Versorgung mangelhaft. Stündlich müssen die Ärzte entscheiden, wem sie helfen und wen sie dem sichren Tod überlassen. Die Triage des Schlachtfeldes wird in den Praxen und Kliniken zum Alltag. Quacksalber preisen ihre Heilkünste an und finden weithin Gehör. Im Schwarzhandel steigen die Preise für antivirale Arzneien sprunghaft in die Höhe. Banden kontrollieren den Markt und versteigern dort die Beute ihrer Raubzüge durch Vorratslager und Apotheken.

Die Erosion der sozialen Ordnung fördert die Leichtgläubigkeit. In der Not schlägt die Stunde selbsternannter Heilsprediger und Teufelsaustreiber. Leere Verheissungen werden blind geglaubt, Sündenböcke werden öffentlich markiert. Vertraute Ängste und Feindbilder überlagern die Seuchenangst. Als im Herbst 1918 die zweite Grippewelle Boston erreichte, vermutete die Kriegspropaganda einen bioterroristischen Anschlag. Der Erreger sei, so hiess es, in Aspirintabletten injiziert worden, die der deutsche Pharmakonzern Bayer hergestellt habe. Ein anderes Gerücht besagte, Deutsche seien in U-Booten in den Hafen von Boston eingedrungen, hätten sich mit Ampullen voller Keime an Land geschlichen und die Erreger in Theatern und Versammlungen freigesetzt. Welche Fama demnächst gläubige Ohren finden könnte, ist unschwer vorauszusehen.