Stänkern gegen Einstein

Der portugiesische Physiker João Magueijo entwirft eine neue Kosmologie,
provoziert die wissenschaftliche Welt und schreibt mit 34 Jahren seine Autobiografie

VON MAX RAUNER (TEXT UND FOTO)

   Wo ist João Magueijo? Die Suche nach dem jungen Physik-Professor wird zum Irrweg durch vier Dimensionen. Der Pförtner des Imperial College in London lässt ewig das Telefon klingeln, umsonst. Im fünften Stock verwinkelte Flure, Professoren in schmalen Zimmerfluchten, Doktoranden beim Teetrinken. Endlich in Raum H 502 sagt ein Mann: «Ich bin nicht João, Sie sind im falschen Gebäude.» Plötzlich ist Magueijo am Handy: «Wo bleiben Sie?»
   Vielleicht ist das Versteckspiel in Raum und Zeit gewollt, schliesslich hat der gebürtige Portugiese gerade ein Buch über die Relativitätstheorie geschrieben. Besser gesagt: gegen die Relativitätstheorie. «Schneller als die Lichtgeschwindigkeit» heisst es, der Untertitel kündet vom «Entwurf einer neuen Kosmologie». Der deutsche Verlag (C. Bertelsmann) schwärmt im Klappentext: «Magueijo ist im Begriff, einer der ganz grossen Physiker des neuen Jahrhunderts zu werden.» Das Buch in Kurzform: Erst kam Albert Einstein, dann João Magueijo.
   Nichts bewegt sich schneller als Licht, das mit knapp 300000 Kilometern pro Sekunde durchs Vakuum flitzt, hatte Einstein einst postuliert und damit den Grundstein für seine Relativitätstheorie gelegt. Wenige Säulen der Physik sind so fest zementiert wie diese. João Magueijo - sprich: Mage-i-scho - will davon nichts mehr wissen. Kurz nach dem Urknall, behauptet er, bewegte sich das Licht fast unendlich schnell. In seinem Buch inszeniert er sich als rebellischer Jungphysiker, der jahrelang kämpfen musste, bis er seine Idee veröffentlichen durfte. Nun erklärt er seine Theorie populärwissenschaftlich und schreibt gleich noch eine Art Autobiografie. Mit 34 Jahren.
   In mehr als zehn Sprachen wurde «Schneller als die Lichtgeschwindigkeit» übersetzt. Auf den amerikanischen Wissenschafts-Bestsellerlisten steht es weit oben. Frech ist Magueijo in seinem Buch, so frech, dass die erste englische Ausgabe eingestampft wurde, weil dem Verlag eine Verleumdungsklage drohte.
   Die englische Neuauflage wurde entschärft, doch in der amerikanischen und der deutschen Ausgabe sind Magueijos Ausbrüche unversehrt erhalten. Die englischen Pförtner beschimpft er als die grössten Snobs (vielleicht verleugnen sie ihn deshalb?), einen Herausgeber der Zeitschrift «Nature» als «kompletten Trottel» mit «Penisneid», die Chefs des Imperial College als «wissenschaftliche Zuhälter» und sich selbst einmal als «absolutes männlich-chauvinistisches Schwein». Michel Houellebecq für Physiker.

«Ich wollte die menschliche Seite der Wissenschaft zeigen»

   Endlich kommt der Gesuchte hinter einer Sitzecke mit verschlissenen Polstermöbeln zum Vorschein. Er trägt ein rotes T-Shirt und würde auch in eine Stierkampfarena passen. Aber als João Magueijo elf Jahre alt war, schenkte ihm sein Vater «Die Evolution der Physik» von Albert Einstein und Leopold Infeld. Der kleine João wollte Physiker werden. Der grosse Magueijo sagt zur Begrüssung: «Ich habe nicht viel Zeit.» In einer halben Stunde müsse er zum Yoga. Er verschränkt die Anne hinter dem Kopf und wartet auf Fragen.
   Also Magueijo im Schnelldurchgang: Warum dieses Buch? «Normalerweise schreiben Leute ein Buch, wenn sie alt und etabliert sind. Ich wollte es andersherum machen.» Warum so ein rüder Tonfall? «Ich wollte die menschliche Seite der Wissenschaft zeigen.» Kein Ärger mit Kollegen? «Ein paar Leute waren verärgert, aber meine Freunde sind immer noch meine Freunde. » Sind Sie der neue Einstein? «Quatsch. Der Vergleich ist mir peinlich.»

   Um zu verstehen, wogegen Magueijo anrennt, muss man bis zum Urknall zurückgehen. Die Entstehung des Universums erklären die Physiker heute für gewöhnlich mit der so genannten Inflationstheorie. Sie wurde Ende der Siebzigerjahre von Alan Guth postuliert -weil dieser eine kreative Idee für einen Professorenposten brauchte, behauptet Magueijo - und gilt inzwischen als beliebteste Schöpfungsgeschichte der Physiker. Insbesondere vermag sie nämlich das «Horizontproblem» zu lösen, das heisst, sie kann erklären, warum das Weltall in alle Richtungen extrem gleichmässig erscheint.

Das Universum blähte sich schlagartig auf und überholte den Lichthorizont

   Als Horizont bezeichnen Kosmologen die Entfernung, die ein Lichtstrahl seit dem Urknall zurückgelegt hat. Die Ausdehnung des Universums ist heute wesentlich grösser als dieser Horizont - und nach dem alten Urknallmodell war das schon immer so. Das heisst: Zwei gegenüberliegende Ränder des Universums können nie einen Lichtstrahl ausgetauscht haben. Andererseits weisen sie dieselbe Temperatur auf. Das schliessen die Astronomen aus der Beobachtung der kosmischen Hintergrundstrahlung, die überall im All etwa gleich ist. Und da liegt das Problem: Wie kann die Temperatur in allen Bereichen des Universums dieselbe sein, obwohl diese doch niemals Licht- oder Wärmestrahlung austauschen konnten?
   Erst der Astrophysiker Alan Guth konntedieses Dilemma auflösen. Gemäss seiner Inflationstheorie wurde das Universum in einem heissen Urknall geboren und war kurze Zeit viel kleiner als der Lichthorizont. Alle Teile des Babyuniversums tauschten Strahlung aus und nahmen die gleiche Temperatur an. Dann blähte sich das Universum schlagartig auf wie ein schnell aufgeblasener Luftballon und überholte dabei sogar den Lichthorizont. Kurz darauf verlangsamte sich die Expansion, und seitdem dehnt sich das Universum gemächlicher aus, so wie es Astronomen heute beobachten.

Alles ist relativ

Albert Einsteins Relativitätstheorie gilt als grösste Revolution in der Physik seit Newtons Gravitationstheorie. Sie bricht mit der Vorstellung eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit. Nach dem «Relativitätsprinzip» ist zum Beispiel die Länge eines Tisches oder die Dauer eines Ereignisses relativ- nämlich abhängig vom Bewegungszustand eines Beobachters. In einem schnell bewegten Raumschiff (genauer: Bezugssystem) gehen die Uhren aus der Sicht eines (relativ dazu) unbewegten Beobachters langsamer. Das Prinzip von der «Konstanz der Lichtgeschwindigkeit» besagt, dass ein Lichtstrahl sich im Vakuum immer mit derselben Geschwindigkeit c ausbreitet, selbst wenn die Lichtquelle sich bewegt. Andernfalls müsste es einen Äther geben, der das Licht transportiert - doch die Ätherhypothese wurde widerlegt.

   Mitte der Neunzigerjahre, als Magueijo in Cambridge Physik studierte, hatten sich die meisten Kosmologen auf dieses kurios anmutende Modell geeinigt. Dann betrat der portugiesische Rebell die Bühne. In seinem Buch wird der Auftritt sorgfältig inszeniert: Die Erleuchtung trifft den jungen Physiker an einem «grauen und feuchten Wintermorgen, an dem ich über die Sportplätze des St. Johns College ging. Ich beschäftigte mich mit dem Horizontproblem und fand es äusserst ärgerlich... Plötzlich blieb ich stehen, und mein Selbstgespräch wurde lauter. Was wäre, wenn sich im frühen Universum das Licht schneller bewegte als heute?»

   «Varying Speed of Light»-Theorie nennt Magueijo sein Modell, abgekürzt VSL. Ihr Grundgedanke: Falls das Licht früher schneller war, als Einstein erlaubt, liesse sich das Horizontproblem auch ohne Inflation lösen. Die Fachwelt steht dieser Idee, vorsichtig ausgedrückt, skeptisch gegenüber. «Die VSL-Theorie ist noch nicht besonders fortgeschritten», sagt der Stanford-Professor Andrei Linde, der die Inflationstheorie zusammen mit Paul Steinhardt und Andreas Albrecht weiterentwickelt hat. Magueijos Buch hat er nicht gelesen: «Ich wollte meine Zeit nicht verschwenden.»
   Über solche Kritik kann Magueijo heute milde lächeln. Seine Koautoren sind bekannte Kosmologen wie Lee Smolin und John Barrow. Die angesehene Royal Society gewährte ihm eines ihrer begehrten Forschungsstipendien, das Imperial College hat ihn auf eine Dozentenstelle berufen. Im vergangenen Jahr hat er drei Artikel in «Physical Review Letters» publiziert, der Top-Zeitschrift der Physiker. «Die beste Reaktion auf Kritik heisst für mich, weiterhin gute Wissenschaft zu machen», sagt Magueijo. In seinem Buch findet sich allerdings auch das Eingeständnis, dass er wohl selbst noch lernen müsse, besser mit Kritik richtig umzugehen.
   Inzwischen haben auch andere Kosmologen VSL-Theorien entworfen. Sie alle gehen in irgendeiner Form davon aus, dass die Lichtgeschwindigkeit keine Naturkonstante ist, sondern auch mal schneller sein kann als rund 300000 Kilometer pro Sekunde. Tatsächlich weisen jüngste Messungen darauf hin, dass die Lichtgeschwindigkeit im frühen Universum möglicherweise grösser war. Magueijo hofft, dass diese Anzeichen in weiteren Tests bestätigt werden.
   Die VSL Theorie zieht jedoch einen ganzen Rattenschwanz, von neuen Problemen nach sich: Was ist mit der Relativität der Naturgesetze, die aus Einsteins Postulat folgte? Gibt es plötzlich wieder einen absoluten Raum? Sind schwarze Löcher nach den neuen Theorien immer noch schwarz? Bis diese Fragen geklärt sind, wird Magueijos Theorie eine Minderheitenposition bleiben. Vor kurzem sollte er einen ersten Übersichtsartikel über die VSL Theorien schreiben. «Ich hoffe, es ist ein Zeichen für Reife, nicht für Senilität», witzelt er.

«Wissenschaft ist nur, wenn man sich in den Dschungel wagt»

   Das Telefon klingelt, seine Freundin ist dran. Magueijo streift sich seine orange leuchtende Outdoor-Jacke über. Gibt es noch irgendetwas Wichtiges? Ja: Was wäre, wenn alles falsch ist, wenn er sich geirrt hätte, wenn Einstein mal wieder Recht behält? Manche Kollegen wünschten nichts sehnlicher als das, glaubt Magueijo. «Sie begreifen nicht, worum es geht. Wenn die VSL Theorie scheitert, versuche ich einfach etwas Neues, noch Radikaleres, weil Wissenschaft ihren Namen nur verdient, wenn man sich in den Dschungel wagt.» Sagts, und verschwindet im Fahrstuhl, eilt am Pförtner vorbei, über eine rote Ampel, durch das Queens Gate und in die grosse, grüne Raumzeit der Kensington Gardens.

João Magueijo: «Schneller als die Lichtgeschwindigkeit. Der Entwurf einer neuen Kosmologie»;
C. Bertelsmann (2003); 40.30 Fr.

SONNTAGSZEITUNG 4.Mai 2003