Neue Zürcher Zeitung

FORSCHUNG UND TECHNIK

Mittwoch, 8. Juni 2005 · Nr.131


Der Kosmos im Computer

Simulation der Strukturbildung

Spe. Unser Universum besitzt einen hierarchischen Aufbau. Sterne ballen sich zu Galaxien zusammen, die wiederum Galaxien- und Supergalaxienhaufen bilden. Durch verschiedene Beobachtungskampagnen hat man in den vergangenen Jahren ein recht genaues Bild von der grossräumigen Galaxienverteilung gewonnen. Um die Entstehung dieser Strukturen zu verstehen, hat das internationale Virgo-Konsortium, an dem deutsche, britische, kanadische, japanische und amerikanische Astronomen beteiligt sind, die bisher aufwendigste Computersimulation des Universums durchgeführt. Die gute Übereinstimmung mit den Beobachtungsdaten stützt die Vorstellung, dass die heutigen Strukturen das Resultat von Dichteschwankungen in einem von kalter dunkler Materie dominierten Universum sind.

Die Simulation basiert auf dem gegenwärtigen Standardmodell der Kosmologie, demzufolge wir in einem Universum leben, das nur zu 5 Prozent aus normaler Materie besteht. Weitaus mehr Energie, nämlich 25 Prozent, steckt in der dunk-len Materie, die nicht mit Licht wechselwirkt und deshalb unsichtbar bleibt. Die restlichen 70 Prozent (auch als dunkle Energie bezeichnet) haben im frühen, von Materie dominierten Universum noch keine Rolle gespielt. Die Forscher konzentrierten sich deshalb darauf, das Verhalten der dunklen Materie zu modellieren. Dabei machten sie die Annahme, dass diese Form der Materie aus bisher unbekannten Elementarteilchen be-steht, die sich relativ langsam bewegen (deshalb «kalte» dunkle Materie).

Der Keim zur Strukturbildung wurde gemäss dem Standardmodell der Kosmologie bereits kurz nach dem Urknall gelegt. Winzige Quantenfluktuationen wurden in einer kurzen Phase der exponentiellen Expansion des Universums enorm aus-gedehnt und sorgten für eine schwache Kräuselung der sonst homogenen Materieverteilung. Die Gravitationskraft liess diese Dichteschwankungen weiter anwachsen, bis sich etwa zehn Millionen Jahre nach dem Urknall nichtlineare Prozesse be-merkbar machten. An diesem Punkt setzt die Simulation ein. Die dunkle Materie wird durch zehn Milliarden Punkte repräsentiert, von denen jeder eine Masse von einer Milliarde Sonnen be-sitzt. 512 Prozessoren eines Supercomputers be-rechneten einen Monat lang, wie sich die Vertei-lung der dunklen Materie bis heute entwickelte.


Die Forscher konnten verfolgen, wie sich ein verästeltes Netz ausbildete, in dessen Knoten-punkten sich gewaltige Mengen an dunkler Mate-rie zusammenballten. Bei genauerem Hinsehen waren in diesen Materiehaufen Hunderte von kleineren Strukturen zu erkennen, bei denen es sich gewissermassen um die dunklen Komponenten einzelner Galaxien handelte. Die Verteilung der dunklen Materie zu verschiedenen Zeiten diente den Forschern als Ausgangspunkt, um in einem zweiten Schritt (unter vereinfachenden An-nahmen) die Entstehung und die Entwicklung von Galaxien, Schwarzen Löchern und anderen Objekten zu simulieren.

Ein wichtiger Test für das der Simulation zugrunde liegende kosmologische Modell ist, ob es die Beobachtung erklären kann, dass es schon 870 Millionen Jahre nach dem Urknall Quasare gegeben hat. Bei diesen Objekten handelt es sich um Galaxien mit einem überaus hellen Kern, der durch Prozesse in der Umgebung eines super-massiven Schwarzen Lochs zum Leuchten gebracht wird. Tatsächlich tauchten in der Simulation rund 900 Millionen Jahre nach dem Urknall die ersten Quasare auf, deren Wurzeln sich bis auf 250 Millionen Jahre nach dem Urknall zurückverfolgen liessen. Die Simulation zeigte auch, was mit den ersten Quasaren passiert: Sie landen in den Zentren von massereichen Galaxienhaufen.

Ein weiterer Erfolg für das Modell der kalten dunklen Materie ist, dass die simulierte Galaxienverteilung statistisch gesehen gut mit der beobachteten übereinstimmt. Ausserdem haben die Forscher berechnet, dass die räumliche Verteilung der Galaxien versteckte Hinweise auf die dunkle Energie enthalten sollte, die zu einer beschleunig-ten Expansion des Universums führt. Sie schlagen deshalb vor, mehr über diese mysteriöse Energie-form in Erfahrung zu bringen, indem man die heutige Galaxienverteilung mit jener vor einigen Milliarden Jahren vergleicht.

Quelle: Nature 435, 572/573; 629—636 (2005).