Der Kassettenrekorder unter dem Kopfkissen sollte es richten. Die Stimme würde Französisch-Wörter sprechen, uns ins Reich der Träume geleiten, und morgens würden alle Vokabeln sicher sitzen. Funktioniert also Lernen im Schlaf? - Ja, aber nicht so, wie das vor Jahren hier und dort versucht wurde. Denn für die Aufnahme von neuen Lerninhalten ist das Gehirn im Schlaf nicht bereit. Aber in der Forschung ist man sich weitgehend einig: Der Schlaf ist massgeblich an der Festigung von Gelerntem beteiligt. Denn dafür, dass die Menschen diesem unbewussten Zustand während eines Drittels ihrer Lebenszeit schutzlos ausgeliefert sind, muss es einen starken Grund geben. Etwas dabei zu lernen, wäre ein guter.
Während wir schlafen, ist unser Gehirn sehr aktiv, allerdings anders als im Wachzustand. Die Neuronenverbände, die Gruppen von Nervenzellen im Gehirn, agieren harmonischer und synchroner, als wenn wir wach sind. Und mit jedem neuen Lerninhalt, der über unser Sinnes-System aufgenommen wird, entsteht im Gehirn eine neue neuronale Spur, die sich entweder verfestigt und zu Erinnerung wird oder wieder vergeht. Die neuen bildgebenden Verfahren, die der Schlafforschung in den vergangenen Jahren einen enormen Aufschwung und von 2000 bis 2003 rund 450 Publikationen beschert haben, machen nun eine Spurensuche möglich.
So zeigen etwa Untersuchungen mit der Magnetresonanztomographie (MRI), dass sich im Schlaf die Aktivität von Hirnregionen stark verändert. «Es scheint, dass man während des Schlafs Erinnerungen in jene Hirnregionen verschiebt, die sich für die Lagerung besser eignen», sagt der renommierte Schlafforscher Matthew Walker in einer Mitteilung der Harvard Medical School in Boston. «Prüfungsaufgaben können so nach dem Aufwachen schneller, genauer und mit weniger Stress und Angst gelöst werden.» Da die Neuronengruppen nicht gleichzeitig Neues aufnehmen und Altes verarbeiten können, muss der Mensch schlafen, so eine Hypothese der Schlafforschung.
Nach Salsa-Kurs ins Bett
Tatsächlich ist der Zusammenhang zwischen Schlaf und dem sogenannten prozeduralen Lernen gut belegt. Dabei geht es um den Erwerb von Routinehandlungen wie Fahrradfahren, Sprechen, Laufen, aber auch Klavierspielen oder einen Pfirsich an seiner samtigen Haut erkennen. Um herauszufinden, wie Schlaf das prozedurale Lernen beeinflusst, liess Walkers Kollege Robert Stickgold seine Probanden nach einer prozeduralen Lernaufgabe eine Nacht lang nicht schlafen. Erwartungsgemäss zeigten die jungen Leute keine Lernfortschritte, auch nicht, nachdem sie zwei weitere Nächte ungestört schlafen konnten. Ganz anders die Kontrollgruppe, die sich auch in der ersten Nacht aufs Ohr hauen durfte. Diese Probanden lösten die gestellte Aufgabe am folgenden Morgen sogar geschickter als am Abend zuvor und verbesserten sich auch noch Tage später. Bei einigen Versuchen stellte sich sogar die Lösung eines komplexen Problems über Nacht von selbst ein.
Wie oft bestätigen unzählige Alltagserfahrungen diese wissenschaftlichen Befunde.
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Am Tag mag die schwierige Kombination im Salsa-Kurs nicht klappen, das Rückwärtsparkieren nicht hinhauen - und plötzlich, nach einem ungestörten Nachtschlaf, läuft alles wie geschmiert. Nicht eine bestimmte Zeitspanne nach dem Lernen oder der Grad der Ausgeruhtheit ist dabei also entscheidend für den Lernerfolg, sondern «Schlaf innerhalb von 30 Stunden nach dem Training», schreibt Stickgold in seiner Studie aus dem Jahr 2000. Wer nach der Fahrstunde eine Nacht durchmacht, kann sich also das Geld dafür sparen.
Lernen scheint darauf zu beruhen, dass der Film, den wir tagsüber erleben, nachts im Kopf ein zweites Mal abläuft. |
Ausgerechnet wenn's ums Wörtchen-Lernen, um das sogenannte deklarative Lernen geht, ist die Bedeutung von Schlaf viel weniger klar. Dabei erwirbt man sich Wissen, das jeder bewusst abrufen kann: Wer war der 17. Präsident der Vereinigten Staaten, was heisst «Schuh» auf Portugiesisch, oder wie war das, als ich mit vier Jahren vom Klettergerüst gefallen bin - auch das biografische Gedächtnis gehört in diese Kategorie.
Deklaratives Lernen braucht Zeit. Zwar ist nur ein Ereignis nötig, um im Zwischenspeicher des Gehirns, dem Hippocampus, eine neuronale Spur zu legen. Das ist sinnvoll, denn die wenigsten Ereignisse erlebt man zweimal.
Vokabeln repetieren
Wegen der beschränkten Kapazität dieses Zwischenspeichers werden aber nicht alle Gedächtnisspuren ins Langzeitgedächtnis in der Grosshirnrinde integriert. Denn müsste unser Gehirn alles Erlebte speichern, wäre es hoffnungslos überfordert. Die Verfestigung beim deklarativen Lernen dauert meistens mehrere Tage - und kann deshalb nicht mit Schlafentzug-Tests untersucht werden. Doch es gibt Hinweise dafür, dass auch Vokabeln-Pauk, ohne Schlaf schwer geht. So liessen Forscher am Massachusetts Institute Technology (MIT) Ratten, durch Schkoladestückchen motiviert, in ihren Käfigen bestimmte Routen ablaufen. Einen Ort kennen zu lernen, heisst ein Ereignis zu lernen. Erstaunlicherweise stellten die Forscher, während die Nager schliefen, exakt dieselben Erregungsmuster im Gehirn fest wie im Wachzustand auf Ortssuche. Mit Hilfe des MRI konnte der belgische Wissenschafter Pierre Maquet denselben Mechanismus beim Menschen zeigen. «Die deklarative Gedächtnisbildung scheint somit darauf zu beruhen, dass der Film, den wir tagsüber erleben, nachts im Kopf ein zweites Mal anläuft», sagt Jan Born, Neurowissenschafter an der Universität Lübeck. Damit meint Born aber nicht Träume, die eine Verarbeitung auf anderer Ebene sind. Es ist völlig offen, ob Träume mit Lernen in Zusammenhang stehen.
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Doch Schlaf ist nicht gleich Schlaf. Die erste Hälfte der Nacht verbringen wir vor allem mit Tiefschlaf, gekennzeichnet durch langsame hohe Hirnstromkurven. Nach einigen Stunden überwiegt dann der REM- oder Traumschlaf (rapid eye movement), bei dem die Hirnstromkurven ähnlich aussehen, wie wenn wir wach sind. Unsere Muskeln sind aber noch schlaffer als im Tiefschlaf, nur die Augenmuskeln zucken wild. Viele Forschungsarbeiten der vergangenen Jahre deuten daraufhin, dass deklaratives Lernen vereinfacht dargestellt eher im Tiefschlaf stattfindet, während prozedurales Lernen eher vom REM-Schlaf profitiert. Wörtchen lernen wir also im Tiefschlaf, Klavier spielen im Traumschlaf. Daraus kann man viele Schlüsse ziehen. Babys zum Beispiel verschlafen zwei Drittel des Tages, und ihr REM-Schlaf-Anteil ist viel grösser als jener der Erwachsenen. Gleichzeitig machen sie unerhörte Fortschritte, lernen zu laufen und zu sprechen. In einem kleinen Test mit seiner Tochter und einigen Freundinnen hat Born herausgefunden, dass Kinder dreimal so schnell prozedural lernen wie Erwachsene. Kinder schlafen also vielleicht so ausgiebig, weil sie viel lernen müssen. Bezüglich Fakten-Lernen zeigt eine noch unveröffentlichte Studie der Lübecker Forscher, dass es wohl sinnvoll ist, morgens in die Schule zu gehen, weil man im Idealfall aufmerksam und aufnahmefähig ist. Am besten aber bleiben die Namen aller Schweizer Flüsse hängen, wenn sie abends vor dem Ins-Bett-Gehen noch einmal memoriert werden. Auch das bestätigen Alltagserfahrungen.
Aber es bleiben auch Fragen offen. Patienten, die gewisse Antidepressiva nehmen, beschneiden damit ihren REM-Schlaf sehr stark. «Trotzdem kann man bei ihnen keine grösseren Gedächtnisstörungen feststellen», sagt Christian Cajochen, Chronobiologe an der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel. «Andererseits zeigen zum Beispiel Patienten, die während des Schlafs unter starken Atemaussetzungen leiden und deshalb immer wieder aufwachen, massive Gedächtnisdefizite.» Diese könnten durch die Schlafstörung hervorgerufen werden, vielleicht aber auch durch Müdigkeit und Stress.
Wenn's ums Lernen geht, ist also regelmässiger Schlaf unabdingbar. Ideal wäre eine Schlafdauer von mindestens vier bis fünf Schlafzyklen, das heisst jeweils vier bis fünf Abfolgen von sowohl Tief- wie REM-Schlaf. Da wir diese im Schlaf nicht zählen können, sollte man sich möglichst an die für sich von Natur gegebene Schlafdauer halten, das sind für die meisten Menschen zwischen sieben und acht Stunden.
Besonders effektiv funktioniert Lernen im Schlaf offenbar, wenn Emotionen beteiligt sind. Bilder und Geschichten mit erschreckendem Inhalt wurden jedenfalls in zwei Studien der Universität Lübeck von den Versuchspersonen morgens als deutlich dramatischer bewertet als abends, insbesondere nach dem traumreichen REM-Schlaf. «Schlaf eine Nacht drüber, morgen sieht alles anders aus», wäre somit ein denkbar schlechter Rat. In diesem Fall allerdings zeigt die Alltagserfahrung das Gegenteil.
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