Neue Zürcher Zeitung

FORSCHUNG UND TECHNIK

Mittwoch, 17. Mai 2006 · Nr.113


Fixiert für alle Ewigkeit?

Zweifel an der Konstanz einer weiteren Naturkonstanten

Vor einigen Jahren weckte eine astrophysikalische Messung erstmals Zweifel an der Konstanz der Naturkonstanten. Nun ist eine weitere Konstante, die Protonenmasse, ins Zwielicht geraten.

Physiker sind bekanntlich keine Freunde von Warum-Fragen. Sie verweisen zwar gerne darauf, mit welcher Genauigkeit sie fundamentale Naturkonstanten wie die Lichtgeschwindigkeit, das Plancksche Wirkungsquantum oder die Stärke der elektromagnetischen Wechselwirkung vermessen können. Fragt man sie aber danach, warum ein Proton ungefähr 1836 Mal so schwer ist wie ein Elektron oder warum die elektrische Anziehungskraft zwischen einem Elektron und einem Proton fast 1040 Mal so stark ist wie die Gravitationskraft zwischen den beiden Teilchen, so müssen sie passen.

Astrophysikalische Indizien

Wer solche Warum-Fragen stellt, geht automatisch davon aus, dass die Naturkonstanten tatsächlich konstant sind und beim Urknall ein für alle Mal fixiert wurden. Diese Grundannahme ist allerdings in jüngster Zeit durch astronomische Beobachtungen in Frage gestellt worden. Schon vor fünf Jahren hatten australische, britische und amerikanische Forscher Zweifel an der Konstanz der sogenannten Feinstrukturkonstanten angemeldet, die ein Mass für die Stärke der elektromagnetischen Wechselwirkung ist. Diese sei vor 11 Milliarden Jahren geringfügig kleiner gewesen als heute, behaupteten die Forscher. Dieser Befund konnte allerdings bei nachfolgenden Untersuchungen durch zwei andere Forschergruppe nicht bestätigt werden. Dafür hat nun ein Team von französischen Astro- und niederländischen Laserphysikern Hinweise darauf gefunden. dass das Verhältnis der Protonen- zur Elektronenmasse in den vergangenen 12 Milliarden Jahren leicht abgenommen haben könnte. Eine endgültige Bestätigung steht allerdings auch hier noch aus.

Die Möglichkeit, dass die Naturkonstanten nur scheinbar konstant sind, haben Physiker schon lange vor diesen Beobachtungen in Erwägung gezogen. Der erste, der solche Ideen äusserte. war im Jahr 1937 der berühmte englische Physiker Paul Dirac. Bald darauf taten es ihm andere Koryphäen der Physik gleich. Aber erst die Stringtheorie lieferte handfeste Argumente, warum es lohnenswert sein könnte, mit experimentellen Methoden nach einer zeitlichen Veränderung der Naturkonstanten zu suchen. Diese Theorie, die von manchen Physikern als aussichtsreicher Kandidat für eine Quantentheorie der Gravitation angesehen wird, postuliert, dass unser Universum nicht nur 4 Dimensionen (3 räumliche und 1 zeitliche) aufweist, sondern 11. Dass man die Extra-Raumdimensionen nicht sieht, wird in der Regel damit erklärt, dass sie zu unvorstellbar kleiner Grösse «aufgerollt» sind.

In dieser Theorie sind die uns geläufigen Naturkonstanten lediglich Projektionen der wahren Naturkonstanten, die im 11-dimensionalen Raum definiert sind. Sollten sich nun die Radien der Extra-Dimensionen im Verlaufe der kosmologischen Entwicklung verändert haben, so blieben zwar die wahren Naturkonstanten konstant, nicht aber ihre Projektionen auf den 3-dimensionalen Raum.

Wie gross die zeitlichen Veränderungen wären, lässt sich gegenwärtig mit der Stringtheorie nicht berechnen. Dafür ist diese Theorie noch nicht weit genug entwickelt. Grobe Anhaltspunkte liefern aber teilchenphysikalische Modelle, die die elektromagnetische Kraft sowie die schwache und die starke Kernkraft auf einheitlicher Basis zu beschreiben versuchen. Aus diesen Modellen folgt zwar nicht, dass die Kopplungskonstanten der drei Kräfte zeitabhängig sein müssen. Wenn sie sich jedoch verändern, so muss es einen Zusammenhang zwischen den Variationen geben. Wie der Teilchenphysiker Harald Fritzsch von der Ludwig-Maximilians-Universität München bereits vor einigen Jahren berechnet hat, sollten sich Grössen, die von der starken Wechselwirkung geprägt werden, wesentlich schneller verändern als die Kopplungskonstante der elektromagnetischen Wechselwirkung. Zu diesen Grössen zählt zum Beispiel die Protonenmasse.

Ein Blick in die Vergangenheit

Die Protonenmasse - genauer das dimensionslose Verhältnis der Protonen- zur Elektronenmasse - lässt sich heute mit atomphysikalischen Methoden extrem genau bestimmen. Eine Möglichkeit, die Konstanz dieser Grösse zu überprüfen, besteht darin, den heutigen Wert mit dem vor vielen Milliarden Jahren zu vergleichen. Zu diesem Zweck hatte eine von Patrick Petitjean vom Institut d'astrophysique in Paris geleitete Arbeitsgruppe bereits vor einigen Jahren das Absorptionsspektrum von zwei weit entfernten Quasaren analysiert. Die Astrophysiker verwendeten dazu das Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte in Chile sowie einen hochauflösenden Spektrographen. Wenn das Licht dieser extrem hell leuchtenden Objekte auf seinem Milliarden von Lichtjahren weiten Weg zur Erde eine Wolke von molekularem Wasserstoff passiert, so wird es von den Wasserstoffmolekülen bei charakteristischen Wellenlängen absorbiert. Ein Vergleich dieses Spektrums mit einem im Labor gemessenen Absorptionsspektrum verrät nicht nur, wie weit die Molekülwolke von der Erde entfernt ist, sondern auch, welchen Wert das Verhältnis von Protonen- zu Elektronenmasse zum Zeitpunkt der Absorption hatte, also viele Milliarden Jahre bevor das Licht auf die Erde traf.

Das vor einem Jahr veröffentlichte Ergebnis liess allerdings keine schlüssige Aussage über die Protonenmasse zu. Wie sich zeigte, waren die zum Vergleich herangezogenen Labormessungen unvollständig. Es gab Lücken im Absorptionsspektrum. Die Astronomen spannten daraufhin mit der Arbeitsgruppe von Wim Ubachs vom Laserzentrum der Freien Universität Amsterdam zusammen. Mit einem speziellen Laser, der im extremen ultravioletten Bereich operiert, gelang es den Laserphysikern, einige bisher unbekannte Spektrallinien im Absorptionsspektrum von molekularem Wasserstoff zu vermessen. Bei einem erneuten Vergleich zeigte sich nun, dass das Verhältnis der Protonen- zur Elektronenmasse in den vergangenen 12 Milliarden Jahren um 0,002 Prozent abgenommen hat.1

 


Anhaltende Kontroverse

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt möchte Petitjean dieses Resultat allerdings nicht überbewerten. Er betont, dass es sich um einen ersten Hinweis handle, der noch erhärtet werden müsse. Diese Vorsicht hat damit zu tun, dass die Absorptionsspektren von nur zwei Quasaren nicht genügen, um gegen statistische Tücken gefeit zu sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Messergebnis dem Zufall geschuldet ist, beträgt zwar nur 0,3 Prozent. Wirklich zuversichtlich sind Physiker und Astronomen aber erst, wenn die Wahrscheinlichkeit für einen zufälligen Befund kleiner als 0,00005 Prozent ist. Um diese Schwelle zu erreichen, so Petitjean, seien nun die Astronomen gefragt. Man müsse das Absorptionsspektrum von weiteren Quasaren analysieren. Diese Aufgabe dürfte allerdings nicht ganz einfach werden. Zum einen gibt es nur wenige Quasare, die hell genug sind, um sie über eine Distanz von vielen Milliarden Lichtjahren hinweg zu beobachten. Und von diesen wenigen Quasaren ist wiederum nur ein kleiner Prozentsatz von einer Wolke aus molekularem Wasserstoff verdeckt.

Dass Petitjean vorsichtig ist, hat allerdings noch einen zweiten Grund. Er gehört nämlich zu einer der beiden Gruppen, die in den vergangenen Jahren vergeblich versucht haben, Hinweise auf die Veränderlichkeit einer anderen Naturkonstanten zu bestätigen. Im Jahr 2001 hatte eine von John Webb von der University of New South Wales in Sydney geleitete Forschergruppe die Behauptung aufgestellt, die Feinstrukturkonstante sei vor 11 Milliarden Jahren um 0,0007 Prozent kleiner gewesen als heute. Die Gruppe hatte sich dabei ebenfalls auf eine Analyse des Lichts von weit entfernten Quasaren gestützt.

Woran es liegt, dass die eine Gruppe Anzeichen für eine Veränderung der Feinstrukturkonstanten sieht, zwei andere Gruppen aber nicht, konnte bisher nicht geklärt werden. Der Verdacht, die beiden negativen Resultate könnten auf einer ungenauen Kalibrierung des Spektrographen beruhen, der von beiden Gruppen benutzt worden war, konnte inzwischen durch eine Kontrollmessung weitgehend ausgeräumt werden. Viele Astrophysiker misstrauen daher dem Ergebnis von Webb.

Vom Universum ins Labor

Auch Atomphysiker haben sich inzwischen in die Diskussion um die Konstanz der Feinstrukturkonstanten eingeschaltet. Zwar müssen sie sich im Gegensatz zu Astrophysikern notgedrungen mit Vergleichsmessungen im Abstand von wenigen Jahren begnügen. Dieses Manko machen sie jedoch durch extreme Genauigkeit wett. So gelingt es heute dank modernster Technik, die Frequenzen von atomaren Übergängen im Labor auf 14 oder 15 Dezimalstellen genau zu messen. Indem man die Frequenzen von verschiedenen Atomsorten mit der Frequenz einer Cäsium-Atomuhr vergleicht und diese Messung einige Jahre später wiederholt, kann man im Spektrum der Atome nach kleinsten Veränderungen der Feinstrukturkonstanten Ausschau halten. Unabhängig davon geben diese Messungen Auskunft darüber, ob sich das magnetische Moment der Cäsium-Atomkerne im Beobachtungszeitraum verändert hat. Diese Konstante wird - wie auch die Protonenmasse - von der starken Wechselwirkung im Inneren der Atomkerne geprägt.

In einem gemeinsamen Kraftakt ist es Arbeitsgruppen des National Institute of Standards and Technology in Boulder, Colorado, der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig und des Max-Planck-Instituts für Quantenoptik in Garching in den vergangenen Jahren gelungen, sehr enge Grenzen für die Veränderlichkeit dieser beiden Konstanten abzuleiten. Innerhalb dieser Grenzen fanden die Forscher weder Anzeichen für eine Veränderung der Feinstrukturkonstanten noch für eine des magnetischen Moments der Cäsium-Atomkerne - zumindest nicht innerhalb des Beobachtungszeitraums, der sich von 1999 bis 2003 erstreckte.

Die Ergebnisse der Atomphysiker stünden aber nicht im Widerspruch zu den astrophysikalischen Messungen, betont Thomas Udem vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik. Rechnet man nämlich die über einen Zeitraum von 11 Milliarden Jahren beobachteten Veränderungen der Feinstrukturkonstanten durch eine lineare Extrapolation auf 4 Jahre um, so liegt die zu erwartende Veränderung knapp unterhalb der gegenwärtigen Nachweisgrenze im Labor. Das Gleiche gilt auch für das Verhältnis der Protonen- zur Elektronenmasse, das über die Kopplungskonstante der starken Wechselwirkung mit dem magnetischen Moment der Cäsium-Atomkerne verknüpft ist. Durch eine weitere Steigerung der Messgenauigkeit sollte es laut Udem allerdings bald möglich werden, die von den astrophysikalischen Messungen implizierten Veränderungen der Naturkonstanten im Labor zu überprüfen.

Wirklich widerlegen lassen sich die astrophysikalischen Messungen auf diesem Weg allerdings nicht. So haben theoretische Physiker längst Modelle entwickelt, die eine nichtlineare Veränderung der Feinstrukturkonstanten vorhersagen. Demnach soll sich diese Konstante nur in den ersten Jahrmilliarden nach dem Urknall merklich verändert haben. Als sich die Expansion des Universums jedoch vor einigen Milliarden Jahren unter dem Einfluss einer dunklen Energie zu beschleunigen begann, fror die Feinstrukturkonstante ein. Tatsächlich deuten die umstrittenen Messungen der Gruppe von Webb darauf hin, dass sich die Veränderung der Konstanten zu dieser Zeit verlangsamt haben könnten.

Christian Speicher

1Physical Review Letters 96. Artikel-Nr. 151 101 (2006).