Neue Zürcher Zeitung

FORSCHUNG UND TECHNIK

Mittwoch, 3. November 2004 · Nr.257


Der Neandertaler — kein Vorfahre des modernen Menschen

Neue Befunde sprechen klar für separate Evolutionslinien

Nach jahrzehntelangen Debatten bestehen kaum noch Zweifel: Auch wenn die Neandertaler und frühe moderne Menschen während der Eiszeit nebeneinander lebten, haben sie sich nicht vermischt. In unseren Adern fliesst kein Neandertalerblut.

Neandertaler Kind

Rekonstruktion der Weichteile eines etwa dreieinhalbjährigen Neandertalerkindes. (Bild Ponce de León/Zollikofer, Universität Zürich)


Die Deutung der Multiregionalisten

Morphologische, entwicklungsbiologische und genetische Studien liefern also gute Argumente dafür, dass Neandertaler und moderne Menschen getrennten Arten und damit zwei eigenständigen Evolutionslinien zuzuordnen sind. Doch Vertreter der Multiregional-Hypothese gewichten die Befunde anders. Als Kronzeugen zitieren sie ein fossiles Kinderskelett, das vor einigen Jahren im Lapedotal in Portugal gefunden wurde und einerseits menschliche Züge, andererseits aber einen robusten Körperbau aufwies, wie er für Neandertaler typisch ist. Die Interpretation dieses Fossils geriet zur «cause célèbre». Während es seine Entdecker als Mischling zwischen Neandertaler und Mensch bezeichneten, konterten prominente Vertreter der Out-of-Africa-Hypothese, es handle sich um einen modernen Menschen, dessen robuster Körperbau lediglich als Anpassung an das Eiszeitklima zu deuten sei ein Urteil, das die erwähnten Zürcher Anthropologen nun mittels computergestützter Vergleiche bestätigen konnten. Auch ein weiteres mutmassliches Zeugnis einer Mischform, der Schädelknochen von Hahnöfersand bei Hamburg, hat sich unlängst als unbrauchbar erwiesen. Zunächst auf 36 000 Jahre datiert, zeigte eine neue Analyse, dass er nur wenige tausend Jahre alt ist und damit nur von einem neuzeitlichen Menschen stammen kann.

Der Neandertaler als Urheber der Aurignac-Kultur?

stz. Ein internationales Forscherteam hat diesen Sommer in einem Artikel in der Fachzeitschrift «Nature» Zweifel an der Theorie geäussert. wonach die Höhlenmalereien und Kunstgegenstände der Aurignac-Kultur, die vor etwa 37 000 bis 28 000 Jahren vor heute in Europa existierte, vom Homo sapiens stammen. In Vogelherd im Schwäbischen Jura waren 1931 Gegenstände vor allem aus Elfenbein ausgegraben worden, die aufgrund ihrer Machart sowie anhand von Altersbestimmungen mittels der Radiokarbonmethode als Artefakte aus der Zeit der Aurignac-Kultur identifiziert wurden. In denselben Schichten fand man menschliche Knochen, von denen man annahm, dass auch sie aus dieser Zeit stammten. Da es sich eindeutig um Knochen vom Homo sapiens handelte, galt dieser als Hersteller der steinzeitlichen Kunstgegenstände.

Als nun erstmals auch diese Knochen einer Radiokarbonanalyse unterzogen wurden, stellte sich jedoch heraus, dass sie höchstens 3900 bis 5000 Jahre alt sind deutlich jünger als die gleichenorts gefundenen Gegenstände. Die Autoren argumentierten nun, dass damit eine wichtige Stütze für die These entfalle, wonach es sich bei den Produzenten dieser steinzeitlichen Artefakte um Vertreter von Homo sapiens handelte. Stattdessen sei es durchaus möglich, so schrieben sie, dass die Neandertaler, die zur Zeit der Aurignac-Kultur vermutlich ebenfalls im Raum des Fundortes lebten, die Gegenstände hergestellt hätten eine Aussage, die bei anderen Prähistorikern allerdings auf scharfe Kritik gestossen ist.

Quelle: Nature 430, 198—200 (2004).

Auch wenn nicht alle Befunde mit der Out-of-Africa-Hypothese in Einklang stehen, erscheint dieses Szenario heute wahrscheinlicher denn je. Danach ist die Gattung Homo mindestens zweimal von Afrika her nach Norden vorgedrungen. In einer ersten Welle wanderte vor fast zwei Millionen Jahren der Homo erectus nach Eurasien ein und begründete hier die Neandertal-Linie, der Homo sapiens dagegen entstand in Afrika und begann erst vor etwa 100 000 Jahren über den Nahen Osten nach Eurasien einzusickern, wo er auf die Neandertaler stiess. Eine genetische Vermischung beider Homo-Vertreter lässt sich zwar weitgehend ausschliessen, doch könnten sie auf kultureller Ebene sehr wohl interagiert haben. Wie Zeugnisse von Begräbnisriten und Artefakte bis hin zu Musikinstrumenten belegen, standen die Neandertaler ihren zugewanderten Cousins keineswegs nach; ganz zu schweigen von ihrem Hirnvolumen von bis zu 1600 Kubikzentimetern. In Europa trafen also zwei hochentwickelte Homo-Arten mit je eigenen Fertigkeiten aufeinander, die kulturell voneinander profitieren konnten. Warum jedoch einer dieser Hominiden von der Bildfläche verschwand, während sich der andere zum heutigen Homo sapiens entwickelte, bleibt noch immer ein Rätsel.

Sibylle Wehner-v. Segesser

Seit der Entdeckung der ersten Fossilien von Neandertalern im 19. Jahrhundert sorgte die Frage nach deren Verwandtschaft mit dem modernen Menschen immer wieder für Kontroversen. Einig ist man sich darüber, dass die Neandertaler schon längst in Eurasien heimisch waren, als vor etwa 40 000 Jahren anatomisch moderne Menschen in Europa erschienen. Unbestritten ist auch, dass sie rund 10 000 Jahre später von der Bildfläche verschwanden. Die Debatten kreisen jedoch um die Frage, ob die Neandertaler durch die zugewanderten Menschen verdrängt wurden oder sich mit ihnen vermischten und damit einen Teil ihres Erbguts an die heutigen Menschen weitergaben.

Zwei unterschiedliche Modelle

Letztlich geht es dabei um zwei grundsätzlich verschiedene Modelle der jüngeren Evolutionsgeschichte des Menschen. Nach der Out-of-Africa-Hypothese entstammt der moderne Mensch einer eigenständigen Evolutionslinie, die vor mindestens 100 000 Jahren in Afrika ihren Anfang nahm; die Multiregional-Hypothese postuliert dagegen, dass die steinzeitlichen Vertreter der Gattung Homo — Neandertaler und moderner Mensch — in verschiedenen Regionen Europas und Asiens gemeinsame Nachkommen zeugten, aus denen dann die heutigen Menschenpopulationen aller Kontinente hervorgegangen sind. Im heute bevorzugten ersten Szenario hätten sich die beiden Hominiden unabhängig voneinander entwickelt und bildeten zwei getrennte Arten: Homo sapiens und Homo neanderthalensis. Im zweiten Szenario wären sie dagegen beide zur Art Homo sapiens zu stellen.

Natürlich lässt sich die Frage, ob ausgestorbene Lebewesen ein und derselben Art definiert als Fortpflanzungsgemeinschaft angehörten, nur indirekt anhand von Merkmalsvergleichen erschliessen. Kontroversen über die Interpretation solcher Vergleiche sind daher unausweichlich. Doch wenn, wie in den letzten Monaten geschehen, gleich mehrere Untersuchungen mit höchst unterschiedlichen Methoden zum gleichen Ergebnis gelangen, kann das wohl kein Zufall sein.

In einer Parforceleistung hat ein Anthropologenteam der Universität New York mehr als 1000 Schädel analysiert: Sie stammten einerseits von Neandertalern sowie stein- und neuzeitlichen Menschen, andererseits von heute lebenden, nichtmenschlichen Primaten wie Schimpansen, Gorillas und Pavianen, deren verwandtschaftliche Beziehungen zueinander bekannt sind. Mit Hilfe von computergestützten Verfahren wurde zunächst bei den nichtmenschlichen Primaten die inner- und zwischenartliche Variationsbreite bestimmt. Anhand dieser Referenzdaten verglich man dann die Neandertalerschädel mit jenen von Menschen. Das Fazit: Die morphologischen Merkmale von Neandertalern und modernen Menschen, auch jenen aus der Steinzeit, klaffen sehr viel weiter auseinander, als das bei Vertretern ein und derselben Primatenart zu erwarten wäre.


Noch präzisere Einblicke in die evolutionäre Verwandtschaft bieten Vergleiche der individuellen Entwicklungsmuster. Während die Körpermerkmale bei erwachsenen Lebewesen zumindest teilweise durch Umwelteinflüsse wie Klima und Nahrungsangebot mitgeprägt sind, werden sie im Kindesalter noch weitgehend vom artspezifischen Erbprogramm bestimmt. Wie morphologische Vergleichsstudien der Zürcher Anthropologen Christoph Zollikofer und Marcia Ponce de León zeigen, sind die Unterschiede zwischen Neandertalern und Menschen aber bereits bei der Geburt sehr ausgeprägt und bleiben dann während der ganzen weiteren Entwicklung erhalten.

Früher erwachsen

Jüngst haben französische und spanische Wissenschafter anhand von Zahnuntersuchungen zudem weitere Details über das Entwicklungsmuster der beiden Homo-Formen zutage gefördert. Vergleichbar mit den Jahresringen von Bäumen bildet die Schmelzschicht der Zähne nämlich Wachstumsstreifen, an denen sich ablesen lässt, wie schnell ein Individuum gewachsen ist. Danach wuchsen Neandertaler nach der Geburt wesentlich schneller als moderne Menschen: Sie waren bereits mit 15 statt erst mit 18 bis 20 Jahren erwachsen. Auch dieser eklatante Unterschied in den genetisch angelegten Entwicklungsprogrammen spricht für eine evolutionsbiologisch eigenständige Entwicklung der beiden Homo-Vertreter. Ausserdem ergaben Zahnanalysen beim Homo heidelbergensis, dem Vorläufer der Neandertaler, dass sich das Wachstumstempo in dieser Evolutionslinie zusehends beschleunigt hat, das fortpflanzungsfähige Alter also immer früher erreicht wurde. Diese verkürzte und intensivierte Entwicklung dürfte die Gefahr des Aussterbens verschärft haben; denn bei knappen Nahrungsressourcen geriet die Versorgung der schnell wachsenden Nachkommen mit ihren grossen, stoffwechselintensiven Gehirnen zum Problem.

Als «evolutionsbiologisches Gedächtnis» ist das Erbgut jedoch am besten geeignet, den Verwandtschaftsgrad verschiedener Lebewesen zu dokumentieren. Dank Erbgutvergleichen wissen wir beispielsweise, dass unter den Menschenaffen die Schimpansen unsere nächsten Verwandten sind. Seitdem Erbmaterial auch aus bis zu 50 000 Jahre alten Fossilien gewonnen werden kann, kommt diese Methode auch in der Paläoanthropologie immer häufiger zum Einsatz; so auch bei der Klärung der Neandertalerfrage. Letzten Frühling haben Wissenschafter der deutschen Max-Planck-Gesellschaft nun den bisher schlüssigsten genetischen Vergleich von Neandertaler und modernem Mensch vorgelegt. Mit Proben mitochondrialer DNA aus Überresten von 24 Neandertalern wurde im Erbgut von 40 Exemplaren früher moderner Menschen nach Neandertalersequenzen gefahndet, doch keine einzige gefunden auch nicht bei solchen Fossilien, die manche Experten morphologisch als Mischformen zwischen Neandertaler und Mensch betrachten. Zwar lässt sich anhand von Vergleichen kleiner DNA-Sequenzen ein sporadischer Gen-Austausch nicht restlos ausschliessen; Vermischungen eines Ausmasses, wie es die Multiregionalisten postulieren, sind jedoch unwahrscheinlich.

Neandertaler Schädelrekonstitution

Schädel eines Neandertalers (vorn, mit extrapolierten Weichteildaten) und eines modernen Menschen (nach computertomographischen Informationen). (Bild Ponce de León/Zollikofer, Universität Zürich)