Die Anspruchshaltung der Patienten steigt. Das zeigen die «Notfälle»: Statt ins Spital könnten die meisten auch zum Hausarzt gehen. Manche bräuchten nicht einmal ihn.
Der Anruf kommt Samstagnacht um halb drei: «Meine 20-jährige Tochter hat eine Augenentzündung. Ich möchte, dass sie vorbeikommen und sich das anschauen.» Die Notfallärztin einer Aargauer Gemeinde will Genaueres wissen, bevor sie sich umzieht und losfährt. Und da kommts, mehr zufällig, heraus: «Ihr Kollege war vor einer halben Stunde da, er hat was verschrieben. Aber wir sind nicht zufrieden mit der Behandlung!»
Solche Episoden sind keine Einzelfälle. Hausärzte berichten von Patienten, die am Heiligabend notfallmässig eine Beratung brauchten - weil sie sich zehn Tage zuvor beim Essen die Zunge verbrannt hatten. Andere Patienten reagierten verdutzt, weil der Dienst tuende Hausarzt um drei Uhr morgens ihren Anruf nicht in der Praxis erwartete, sondern zu Hause im Bett lag - nachdem er tagsüber von einem Kranken zum nächsten gehetzt ist.
«Da herrscht oft eine Diskrepanz: Alle schimpfen über die hohen Krankenkassenprämien, aber wenn sie selbst betroffen sind, wollen sie das Beste, und es muss schnell gehen», sagt Ursula Gröbly von der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO). «Was die Ärzte über die Anspruchshaltung der Patienten sagen, das stimmt,»
Ärzte in Spitälern berichten Ähnliches wie ihre Hausarztkollegen «draussen»: «Wir hatten kürzlich ein Kind, das seit zwei Monaten an Bauchschmerzen litt. Die Eltern waren mit ihm weder zum Kinderarzt noch zum Hausarzt gegangen. Stattdessen kamen sie Sonntagabend um halb neun zu uns», erzählt eine Kinderärztin eines kantonalen Spitals. Von 4o Kindern, die sie an einem anderen Wochenende untersucht habe, sei eines wirklich schwer krank gewesen und musste hospitalisiert werden. Alle anderen litten an leichten Infekten. «Jetzt zieh dich rasch an, damit wir noch in den Zoo gehen können», hätte ein Elternteil am Ende der «Notfall»-Konsultation das Kind gar aufgefordert.
Zweistellige Zuwachsraten
Notfall-Ambulanzen verzeichnen teils zweistellige Zuwachsraten an Patientenzahlen. Dass Konsultationen wegen Bagatellen die Krankenkassen unnötig belasten, ist offensichtlich. Nach dem Tarmed-Tarif, der seit Januar gilt, ist die NotfallBehandlung im Spital aber «tendenziell eher günstiger, weil dort der Notfall-Zuschlag wegfällt, den Hausärzte verrechnen», sagt Ursula Vogt vom Verband der Krankenkassen Santésuisse. Den Kassen könnte es also recht sein, wenn Versicherte direkt das Spital aufsuchen.
Doch: Spitäler werden nicht nur durch die Kassen, sondern auch durch die Steuerzahler finanziert. Werden mehr Patienten in der Notfall-Ambulanz behandelt, müssen dort zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt oder aus anderen Abteilungen transferiert werden - oder die bereits angestellten leisten mehr.
Offen ist, ob die Gesellschaft als Ganzes womöglich sogar profitiert, wenn ein Arbeitnehmer am Wochenende ins Spital geht, statt am Montag in der Firma zu fehlen, weil er beim Arzt ist. (mfr)
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Untersuchung erzwungen
Jüngst habe ein erboster Angehöriger eine Notfallkollegin regelrecht genötigt, eine bestimmte Untersuchung durchzuführen. «Die war so eingeschüchtert, dass sie es gemacht hat», sagt die Ärztin, die ihren Namen nicht öffentlich nennen möchte. «Die Anspruchshaltung der Patienten ist teilweise riesig», pflichtet Ursula Gröbly von der SPO bei. «Manche verlangen zum Beispiel statt einem notwendigen Röntgenbild gleich ein Computertomogramm oder gar ein MRI» -was, etwa für die Untersuchung des Kopfs, statt 90 Franken 197 (CT) oder 375 Franken (MRI) kostet.
Andere «Patienten» kommen nachts um zwei Uhr, in bester Stimmung auf dem Heimweg von einer Party, «noch schnell die Rippen röntgen». Der Sturz liege zwar schon mehrere Tage zurück, aber «beim Hausarzt hätte ich warten müssen, und hier komme ich gleich dran», erläutert die Patientin auf Nachfrage. Warum kann der Arzt solche Patientinnen nicht einfach abweisen? «Das wäre eine Verletzung der Sorgfaltspflicht», gibt Robert Rhiner vom Kantonsspital Baden zu bedenken.
«Über die letzten zehn, fünfzehn Jahre haben Bagatellen in den Notfallambulanzen zugenommen» sagt Bernard Laubscher, Chefarzt für Kinderheilkunde am Spital Pourtalès NE. Vor acht Jahren war dort zunächst ein kostenloser telefonischer Beratungsdienst für Eltern eingerichtet worden, seit 1997 leistet zusätzlich ein Kinderarzt an Wochenenden und Feiertagen Notfalldienst. Zwischen 1996 und 2001 verdoppelte sich die Anzahl der «Notfall»-Konsultationen in Pourtalès annähernd. Immer häufiger suchten Eltern mit ihren Kindern wegen offenbar leichter Erkrankungen das Spital auf, ergab Laubsehers Analyse vor etwa zwei Jahren.
Seine Ergebnisse decken sich mit jenen der Arbeitsgruppe WIP. WIP steht für «walk-in-patients», Patienten also, die sich selbst zuweisen und direkt in der Notfallambulanz erscheinen. Während zweier Erhebungsphasen vor rund zwei Jahren analysierte die Arbeitsgruppe alle Notfälle in den Spitälern Baden und Brugg. Von 476 Patienten hatten sich etwa 60 Prozent selbst zugewiesen, an Sonntagen waren es gar 80 Prozent. Ein dreiköpfiges Ärzteteam beurteilte auf Grund der genannten Beschwerden und Diagnosen rückblickend, ob die Behandlung im Spital notwendig war. Fazit: «80 Prozent der Patienten hätten problemlos durch den Hausarzt oder den Notfallarzt betreut werden können.» Weshalb aber bevorzugen viele den Gang ins Spital statt zum Arzt vor Ort? Noch dazu wegen leichten Beschwerden? Fachleute nennen mehrere Gründe:
Gemäss der Arbeitsgruppe WIP ist ein wesentlicher Faktor die «Unkenntnis über den Notfalldienst». Ausländer waren unter den WIPs übervertreten. «Auch manche Schweizer denken zum Beispiel, im Spital ist ja sowieso ein Nachtarzt anwesend», sagt Robert Rhiner vom Kantonsspital Baden. «Aber sobald eine spezielle Untersuchung angefordert wird, muss die zuständige Person geweckt werden, kommt manchmal von zu Hause hierher gefahren - und am nächsten Tag muss sie normal weiterarbeiten. Nachts laufen die Kliniken auf Minimalbetrieb.»
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Gesundheitsreform (4)
Die Revision des Krankenversicherun gsgesetzes (KVG) ist gescheitert. Was nun? Wo liegen die Brennpunkte? Der TA beleuchtet diese Fragen in einer Serie. Thema der nächsten Folge: «Das grosse Problem der Zukunft: Die Pflegeversicherung für die Alten». Bereits erschienen: «Couchepin greift zu kleinen Dosierungen» (26.1.); «Die Prävention als Stiefkind des Gesundheitswesens» (27.1.); «Auch Kranke tragen Verantwortung» (4.2.).
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Medizinische Laien sind in der Selbstbeurteilung häufig überfordert. 70 Prozent der Anrufer, die einen telefonischen Triagedienst konsultierten, schätzten ihre Beschwerden dringlicher ein als die Fachleute am anderen Ende der Leitung. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des Berner Instituts für Sozial- und Präventivmedizin in Zusammenarbeit mit der Firma Medvantis medi-24. Lediglich z Prozent der Anrufenden, die ursprünglich eine Notfallstation hatten aufsuchen wollen, wurden vom Berater darin bestätigt.
«In vielen Fällen ist es ökonomischer Druck, am Wochenende ein Spital aufzusuchen. Man muss am Montag wieder arbeiten», sagt Bernard Laubseher. Also wurden Arztbesuche, zumal mit dem Kind, aufs Wochenende verschoben, wenn dafür Zeit sei. Umso mehr, wenn der Arbeitgeber bei jedem Arztbesuch «gnietig tut», wie Ursula Gröbly von der SPO sagt. Das sei «nicht selten».
Das Gefühl, «man zahlt ja schliesslich hohe Krankenkassenprämien und hat deshalb das Anrecht, alle möglichen Leistungen auszuschöpfen», wie es ein Zürcher Hausarzt formuliert. Mit der Höhe der Krankenkassenprämie steige auch die Anspruchshaltung, meint ein Aargauer Arzt. Auch die Bequemlichkeit spielt eine Rolle: «Bei uns sind die Parkplätze vor dem Haus. Da kann man einfach vorfahren und muss nicht erst den Hausarzt suchen, der gerade Dienst hat», sagt Robert Rhiner vom Spital Baden.
«Die Patienten wissen heute genauer, was sie wollen. Sie sind medizinisch und juristisch besser informiert.» Darauf weist Andre Haas vom Kantonsspital Winterthur hin.
«Die Gesellschaft ist instabiler geworden», nennt Kinderarzt Laubseher einen weiteren Grund. Patienten oder Eltern hätten mehr Angst. Dazu trügen auch die Medien bei. «Manche kommen lieber direkt auf den Notfall, weil sie zum Beispiel fürchten, sie leiden an Vogelgrippe und der Hausarzt könne das sowieso nicht beurteilen», erzählt Robert Rhiner. TV-Sendungen und andere Medienberichte übel Krankheiten führen laut Fachleuten dazu, dass Patienten genau die am Fernsehen vorgestellte Krankheit bei sich vermuteten und in die Sprechstunde kämen.
Und nicht zuletzt trügen auch die Ärzte selbst dazu bei, wendet Ursula Gröbly ein: «Wenn sie zum Beispiel ihre Sprechstunde schlecht organisieren und Patienten unnötig lange warten lassen, provozieren sie geradezu, dass diese sich direkt ins Spital begeben. »
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