Neue Zürcher Zeitung

FORSCHUNG UND TECHNIK

Mittwoch, 25. Mai 2005 · Nr.119


Out of Africa - immer der Küste entlang?

Wie der moderne Mensch die Erde besiedelte

Nur wenige Paläoanthropologen zweifeln heute noch daran, dass die Ursprünge des modernen Menschen in Afrika lagen. Doch in welcher räumlichen und zeitlichen Abfolge Homo sapiens die übrigen Kontinente besiedelte, ist nach wie vor strittig. Folgt man dem traditionellen Modell, so gab es nur einen einzigen Exodus, der vor etwa 45 000 Jahren über den «levantinischen Korridor» führte. Demnach hat Homo sapiens von Nordostafrika aus via Sinai-Halbinsel den Vorderen Orient erreicht und sich von dort über den ganzen Globus ausgebreitet. Eine andere Hypothese postuliert dagegen zwei zeitlich gestaffelte Auswanderungen, die über getrennte Routen erfolgten: Eine erste Population soll schon vor 60 000 bis 70 000 Jahren den Kontinent verlassen und vorn Horn von Afrika aus das Rote Meer an der Meerenge Bab el Mandeb überquert haben. Über die südliche Arabische Halbinsel erreichte sie die Strasse von Hormuz, um den Ufern des Indischen Ozeans entlang nach Südostasien und Australien vorzustossen. Etwa 20 000 Jahre später wanderte dann ein zweiter Trupp über die levantinische Nordroute in Richtung Westasien und Europa.

Weder die eine noch die andere Hypothese lässt sich aufgrund von Fossilfunden lückenlos belegen. Immerhin zeigen die Fossilien, dass moderne Menschen vor mindestens 45 000 Jahren Indonesien und kurz danach bereits Australien erreicht hatten. In Europa trafen sie erst später ein: Die frühesten, rund 35 000 Jahre alten Belege stammen aus Rumänien. Sollte der Mensch über den levantinischen Korridor aus Afrika ausgewandert sein, stellt sich die Frage, warum der kurze Weg nach Europa so viel mehr Zeit in Anspruch nahm als der um ein Vielfaches längere nach Australien. Die gängige Erklärung verweist auf das raue Klima, das damals - gegen Ende der letzten Eiszeit - in Europa herrschte, und auf die geologischen Barrieren, die es zu überwinden galt. Ein ganz anderes Szenario zeichnen nun zwei neue Studien, nach denen der Mensch Afrika nur über die Südroute verlassen hat und erst nach einem Umweg über die Gestade des Indischen Ozeans nach Europa vorgedrungen ist.

Zur Klärung der menschlichen Siedlungsgeschichte werden neben Fossilien und paläoklimatischen Daten zunehmend auch Erbgutanalysen heute lebender Populationen herangezogen. Besonders gut lassen sich die Spuren der Vergangenheit im Erbgut der Mitochondrien verfolgen. Da diese Zellorganellen ausschliesslich über die mütterliche Linie vererbt werden, sich ihre DNA (mtDNA) also nicht mit dem väterlichen Erbgut vermischt, verändern sie sich über die Generationen nur durch den langsamen und stetigen Prozess der Mutation. Anhand von Vergleichen bestimmter Erbgut-Varianten - sogenannter Haplotypen - dieser mtDNA oder des Y-Chromosoms, das nur über die väterliche Linie vererbt wird, kann man daher abschätzen, wie weit die Trennung ihrer Träger zurückliegt.


Mit solchen molekularen Methoden wurde schon verschiedentlich versucht, die Plausibilität der diskutierten Out-of-Africa-Szenarien zu testen - bisher ohne eindeutiges Ergebnis. Die zwei neuen Studien scheinen nun aber zu belegen, dass die Südroute entlang des Indischen Ozeans die Hauptrolle spielte, ja möglicherweise sogar als einzige aus Afrika führte. Eines der beiden Forschungsteams untersuchte die mtDNA der Orang Asli, der Ureinwohner der malaysischen Halbinsel in Südostasien, die vermutlich seit ihrer Ankunft in Asien von den übrigen Populationen der Region isoliert lebten. Unabhängig davon befasste sich ein zweites Team mit Ureinwohnern der südostasiatischen Andamanen-Inseln. In beiden Fällen ergab der rekonstruierte genetische Stammbaum, dass sich die untersuchten Populationen vor etwa 60 000 Jahren von allen übrigen asiatischen Populationen getrennt hatten.

Dieses frühe Auftreten des modernen Menschen in Südasien und - so ein weiteres Ergebnis - die gemeinsamen mitochondrialen Wurzeln aller ausserafrikanischen Populationen werten die Autoren als Indizien für eine einzige Auswanderungswelle aus Afrika, die vor 60 000 bis 75 000 Jahren stattfand. Die Ausbreitung nach Osten sei dann innerhalb weniger Jahrtausende erfolgt, also so rasch, dass sie nur über die südliche Küstenroute machbar gewesen sei. Zudem war die Nordroute über Land damals durch ein grosses Wüstengebiet blockiert. Auf der 12 000 Kilometer langen Strecke von Indien nach Australien muss Homo sapiens dann pro Jahr bis zu vier Kilometer bewältigt haben. Doch eine Frage lässt das neue Out-of-Africa-Szenario offen: An welchem Punkt der Wanderung entlang des Indischen Ozeans haben sich die Vorfahren der Europäer vom Treck getrennt?

Sibylle Wehner-v. Segesser

Quellen: Science 308, 996; 1034-1036 (2005).