NZZ am Sonntag WISSEN 1. Februar 2004

Rätsel aus der Bronzezeit

Seit zwei Jahren versuchen Wissenschafter die Sternscheibe aus dem ostdeutschen Nebra zu deuten - doch keine der Interpretationen überzeugt. Von Genevieve Lüscher

Heute kann man in die mittlerweile weltberühmte Sternscheibe von Nebra sogar hineinbeissen! In Form eines handtellergrossen Gebäcks wird sie in der Umgebung des Fundortes angeboten. Wer es gerne authentischer hätte, der kann die materialgetreue Kopie in richtiger Grösse für 672 Euro kaufen. Vermutlich werden Schlüsselanhänger und T-Shirts mit entsprechendem Aufdruck bald folgen. Das «Ding» fasziniert. Und am meisten fasziniert es wohl, weil niemand für die Darstellungen auf der Scheibe eine überzeugende Interpretation liefern kann. «Ein Kaltgegenstand», meinen die Archäologen vorsichtig, ohne sich weiter auf die Äste hinauszuwagen. «Eine Himmelsdarstellung, ein Bauernkalender», meinen die einen Astronomen, während andere eine astronomische Deutung rundweg ablehnen. Kommt noch die Gilde der Esoteriker dazu, die Sterndeuter und Astrologen, die ihrerseits mehr oder weniger phantastische Deutungen anzubieten haben. Die Bronzeplatte jedoch schweigt. Beginnen wir ganz von vorn, denn die Entdeckungsgeschichte trägt nicht wenig zur Faszination der Scheibe bei. Sie kam nämlich nicht bei einer regulären Ausgrabung zum Vorschein, sondern wurde 1999 von Schatzgräbern unsanft aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen. Zwei Jahre lang versuchten diese, über Zwischenhändler das illegale Gut in bare Münze umzusetzen.

Der Coup flog auf

Verschiedene Angebote - auch an grosse deutsche Museen, die leider hin und wieder solche Hehlerware zu kaufen pflegen -schlugen fehl, bis sich endlich ein ernsthafter Käufer meldete: Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, der auf Umwegen vom angeblich in seinem Land ausgegrabenen Schatz erfahren hatte. Konspirativ traf man sich am 23. Februar 2002 im abhörsicheren Keller eines Basler Hotels, über 500 000 Franken forderten die Verkäufer, Meller zeigte sich - scheinbar -kaufbereit. Aber: Nach rascher Echtheitsprüfung der Platte, die einer der Verkäufer um den Leib geschnallt mitgebracht hatte, rief Meller die Polizei herein, welche die Antiquitätenschieber auf der Stelle verhaftete. Der Coup war aufgeflogen. Es begann die Suche nach den Hintermännern und Raubgräbern, die schliesslich alle gefasst werden konnten. Geständig, wurden sie im September 2003 zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt. Die Hobbyarchäologen gaben an, die Scheibe auf dem Mittelberg bei Nebra südwestlich von Halle aus dem Boden gerissen zu haben. Angeblich stak sie dort senkrecht in einer von grossen Steinbrocken umfassten Grube und war umgeben von weiteren bronzenen Gegenständen: zwei Schwertern, zwei Beilen, einem Meissel und Fragmenten von Armringen.

Die Sternscheibe von Nebra, um 1600 v.Chr. (Fabrizio Bensch/Reuters)
Die Sternscheibe von Nebra, um 1600 v.Chr. (Fabrizio Bensch/Reuters)
 

   Offiziell mit der astronomischen Deutung beauftragt wurde Wolfhaxdt Schlosser, Astronom an der Ruhr-Universität Bochum. Er interpretiert das Bild als kumulative Darstellung des nächtlichen Himmels über dem Fundort Mittelberg: Mondsichel, Vollmond und Sterne, wobei Letztere - mit Ausnahme einer Gruppe - keine Sternbilder darstellen, sondern nach dem Zufallsprinzip angeordnet sind. Die Gruppe von sieben dicht nebeneinander gesetzten Punkten interpretiert er als Plejaden, allerdings, wie ex selber zugibt, «stark stilisiert». Die beiden Randbögen stellen den Horizont dar und umfassen, wenn man ihre Endpunkte diagonal miteinander verbindet, mit ihrem 83-Grad-Winkel den nördlichsten und südlichsten Punkt des Auf- und Untergangs der Sonne im Jahreslauf.
   Die Plejaden sind in vielen alten Kulturen als sogenannte Kalendersterne bekannt, weil sie nur einmal in Jahr auf- und untergehen. Sie dienten als Fixpunkte im bäuerlichen Jahr. Mit Hilfe der Horizontbögen und vor allem der Plejaden sollen also laut Schlosser wichtige Moment im Bauernkalender bestimmt worden sein. Seine Ausführungen in der Dezemberausgabe der Zeitschrift «Steine und Weltraum» beruhen aber auf einem derart komplizierten Erklärungsmodell, dass sie wenig überzeugen können. Auch bleibt offen, wie denn die Scheibe konkret benutzt worden sein soll.

Deutung nicht möglich

Andere Astronomen sehen das ganz anders. Kurt Heinz Locher, Spezialist für die astronomischen Errungenschaften alter Kulturvölker, der soeben von der Universität Bern für seine Forschungen mit dem Ehrendoktor ausgezeichnet worden ist, kann beim besten Willen nichts von alledem erkennen: «Die Scheibe kann astronomisch nicht gedeutet werden, weil keine Beobachtungssituation dargestellt ist», lautet sein knapper Kommentar. «Hätten die Menschen wirklich die Plejaden darstellen wollen, so hätten sie es getan; das, was man auf der Scheibe sieht, sind sie jedenfalls nicht.» Mit Astronomie hätten alle diese Interpretationsversuche nichts zu tun.
   Differenzierter sieht das Gerd Grasshoff, Professor Für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Bern. Astronomiegeschichte ist eines seiner Spezialgebiete. «Deutungsvorschläge sollten von der Frage ausgehen, welche astronomischen Zusammenhänge Für die bronzezeitlichen Nutzer von Bedeutung waren», sagt er. Jahreszeiten stellten sicher ein eminent wichtiges Thema dar. Der Rhythmus des Ackerbaus, Säen und Ernten, war elementar. Aber nur die Beobachtung astronomischer Phänomene am Himmel, d. h. am Horizont, erlaubte das Erkennen einer zeitlichen Ordnung. Der Mond taugt dazu nicht. Es gibt laut Grasshoff 20 bis 30 Sterne, deren Auf- und Untergänge im Jahresrhythmus erfolgen und die sich deswegen als Fixpunkte hervorragend eignen, beispielsweise die Plejaden. Viele Bauernregeln basieren auf ihrer Beobachtung. Dennoch hält Grasshoff eine genaue kalendarische Nutzung der Scheibe für unwahrscheinlich. Aber: Das Band der Sterne zwischen den beiden Horizontbögen könnte «eine ungefähre zeitliche Abfolge der Sternaufgänge am Horizontbogen» wiedergeben. Ein passendes Bild kann heutzutage mittels Simulationsrechnungen hergestellt werden, denn die Liste der Sterne und ihre damaligen Sichtbarkeitsdaten sind bekannt. Diese Kalkulationen sind aber umfangreich und zeitaufwendig. «Wir sind noch nicht fertig», meint Grasshoff, «aber wir bleiben dran.»

 

   Analysen von Bodenproben vom Mittelberg einerseits und von der an den Objekten noch anhaftenden Erde andererseits ergaben eine so gute Übereinstimmung, dass die Fundstelle heute als gesichert gelten darf. Die Archäologen der Landesarchäologie Sachsen-Anhalt konnten dort tatsächlich entsprechende Wühlereien im Erdreich feststellen. Die Nachuntersuchungen am Ort erbrachten dann aber keine weiteren Funde oder Anhaltspunkte für eine Interpretation. Mit Sicherheit liegt keine Grabstätte vor, und auch für eine Siedlung fehlt entsprechendes Fundmaterial.
   Harald Meller vermutet einen sogenannten Depotfund, eine typische Kaltäusserung prähistorischer Menschen. Gerade in der Bronzezeit sind derartige Depot- oder Weihefunde in Mitteleuropa häufig; sie können Hunderte von Bronzegegenständen umfassen, die einer Gottheit als Opfer dargebracht worden sind. Die Fundstelle ist umgeben von einem flachen Wall und Graben, die einen Platz von über hundert Metern Durchmesser umschliessen. Allerdings ist diese Anlage rund 1000 Jahre jünger als die Platte, und es besteht möglicherweise gar kein Zusammenhang. Der etwas vorschnellen Interpretation des Mittelberges als prähistorisches Observatorium durch Harald Meller ist auch deshalb mit Vorsicht zu begegnen, weil der «Berg» mit seinen nur 250 Metern Höhe als Sternwarte nicht unbedingt geeignet scheint, zumal ein Weitblick nur dann möglich ist, wenn man sich den ganzen Hügel abgeholzt denkt.

32 Sterne aus Goldblech

Als Unikat ist die Sternscheibe nicht datierbar. Die Mitfunde hingegen, besonders die Beile und Schwerter, sind von ihrer Form her gut bekannt und ziemlich präzise einzuordnen: Der ganze Depotfund gehört in die Zeit um 1600 v. Chr., das heisst in die Bronzezeit.

Detailuntersuchungen haben ergeben, dass die Scheibe mehrmals «umgebaut» worden ist. In einer ersten Phase waren Sonne, Mond und 32 Sternpunkte aus Goldblech eingearbeitet worden, dann wurden zwei Randbögen ergänzt; in einer dritten Phase kam die «Barke» dazu, und schliesslich wurde die Scheibe ringsherum gelocht. Im Zug dieser Adaptationen mussten offensichtlich Sterne eliminiert oder versetzt werden. Nachdem der Fundort geklärt und die Scheibe datiert ist, bleibt die Frage nach ihrer Funktion. Was stellt sie dar, wozu wurde sie benutzt? Beide Fragen sind noch immer offen. «Ein zweifellos sakrales Gerät», schreibt Harald Meller, und darin wenigstens sind sich wohl alle einig. Aber dann gehen die Meinungen weit auseinander. Meller erkennt im Bild «die älteste bekannte korrekte Darstellung des Sternenhimmels sowie astronomischer Phänomene». Gleichzeitig interpretiert er eine mythologische Komponente hinein: Die unbemannte «Barke» soll zwischen Sonnenauf- und Sonnenuntergang über den nächtlichen Himmel fahren.

Stilisierte Plejaden?

Schöne Bilder und kühne Hypothesen! Beweisen lässt sich nichts. Da die Bronzezeit Mitteleuropas eine schriftlose Epoche war, werden wir über die damaligen mythologischen Vorstellungen nie Genaues erfahren.

 
In vielen alten Kulturen als Kalendersterne bekannt: die Plejaden. (Tony Hallas/SPL)

In vielen alten Kulturen als Kalendersterne bekannt: die Plejaden. (Tony Hallas/SPL)

Bronzeplatte mit Sonne, Mond und Sternen

Die rund zwei Kilogramm schwere Scheibe von Nebra misst etwa 30 Zentimeter im Durchmesser, die Dicke der Bronzeplatte variiert von 1,5 bis 4,5 Millimeter. Auf der Vorderseite waren ursprünglich 32 Sterne, ein Sichelmond und eine Sonne (oder ein Vollmond) aus 0,4 Millimeter dickem Goldblech eingearbeitet. Später kamen zwei Randbögen dazu (heute ist einer weggefallen) sowie eine «Barke». In einer letzten Phase wurden entlang dem Rand 38 Löcher von der Vorderseite her eingestanzt.

Die Rückseite blieb immer unverziert. Die heutige Grünfärbung (Malachitkorrosion) ist eine Folge der Lagerung im Boden. Mit ihrem sehr tiefen Zinngehalt (2,5%) hatte die Bronze einen rot-goldenen Glanz. Um einen Effekt mit den Goldeinlagen zu erreichen, musste der Schmied die Bronze patiniert haben. Mit verschiedenen Mitteln konnte er eine Braun-, Blau-, Grün- oder Schwarzfärbung erreichen. Welche Farbe die Platte ursprünglich hatte, ist nicht bekannt. (glü.)