NZZ am Sonntag · 14. Mai 2006
  WISSEN

Das Universum vor 13,7 Milliarden Jahren. Die Farbvariationen entsprechen unterschiedlichen Materiedichten nach dem Urknall.

Vergrösserter Ausschnitt des obigen Bildes.

Im Verlauf vieler Millionen Jahre verstärken sich die Dichteschwankungen, weil sich die Materie aufgrund der Schwerkraft gegenseitig anzieht.

400 Millionen Jahre nach dem Urknall entstehen die ersten Sterne.

Weitere Sterne zünden und gruppieren sich in Galaxien.

Das Universum heute: Unzählige Sterne und Galaxien. Sie alle entstanden aus den winzigen Dichteschwankungen nach dem Urknall.

(Bilder: Nasa)

 

 

 

 

 

 

 

 


WMAP-Satellit
Der WMAP-Satellit
 

  

Der Fingerabdruck
des Urknalls

96 Prozent unseres Universums sollen aus rätselhaft «dunkler Energie» und «dunkler Materie» bestehen. Oder ist alles nur Täuschung? - fragen sich die Astrophysiker. Von Rainer Kayser


Manchmal kommen selbst nüchterne Naturwissenschafter ins Schwärmen. «Es ist kaum zu glauben, dass wir überhaupt etwas über die erste billionstel Sekunde des Universums erfahren können», staunt der amerikanische Astrophysiker Charles Bennett. Bennett ist Chef der Mission des WMAP-Satelliten (Wilkinson Microwave Anisotropy Probe). Und dieser Satellit hat gerade neue Beweise dafür geliefert, dass sich der Kosmos in der ersten billionstel Sekunde seiner Existenz um das 1060-fache ausgedehnt hat - das ist eine Zehn mit 60 Nullen. Damit bestätigt WMAP das sogenannte «inflationäre Szenario» des Urknalls.

Zugleich bestätigte WMAP mit seinen Messungen einmal mehr, dass unser Kosmos zu 96 Prozent aus bisher unbekannten Zutaten besteht: «Dunkle Materie» und «dunkle Energie» nennen die Astrophysiker diese mysteriösen Substanzen, die sich nur durch subtile Effekte bemerkbar machen. Die gewöhnliche Materie, der Stoff also, aus dem Sterne, Planeten und wir Menschen bestehen, scheint demnach nur ein unwesentlicher Anteil des Universums zu sein, nicht mehr als eine Schaumkrone auf einem dunklen Ozean. «Diese Vorstellung ist völlig verrückt», gibt der amerikanische Kosmologe Sean Carroll zu, «sie steht in keinerlei Bezug zu irgendeiner irdischen Erfahrung. Aber immer, wenn wir neue Beobachtungen im Weltall machen, bestätigen sie dieses Bild vom Universum.»

Zu «schnelle» Sterne

Doch nicht alle Physiker mögen dieser verrückten Vorstellung folgen. «Wer hier von Bestätigung spricht, stellt allzu niedrige Ansprüche an wissenschaftliche Beweise», erklärt etwa Edward Kolb vom amerikanischen Teilchenforschungszentrum Fermilab angriffslustig. Seiner Ansicht nach könnte es sich bei der vermeintlich dunklen Energie um einen Scheineffekt handeln, hervorgerufen durch beim Urknall ausgelöste Schwingungen des Raumes. In die gleiche Kerbe hauen Fred Cooperstock und Steven Tieu von der University of Victoria in Kanada: Wo andere Forscher dunkle Materie finden, sehen sie lediglich Effekte der allgemeinen Relativitätstheorie am Werk.

Doch der Reihe nach. Als die Astronomen in den 1960er Jahren erstmals die Bewegung von Sternen in anderen Galaxien messen konnten, stiessen sie auf einen seltsamen Befund: Die Sterne waren zu schnell. Die durch die Kreisbewegung der Sterne erzeugte Fliehkraft schien grösser zu sein als die Anziehungskraft der Galaxien - demnach hätten die Galaxien eigentlich auseinander fliegen müssen. Doch offensichtlich existieren die Galaxien seit Milliarden von Jahren.

Es muss also, folgerten die Astronomen, zusätzlich zur sichtbaren Materie weitere unsichtbare Materie geben, die die Galaxien zusammenhält: eben die dunkle Materie. Doch um normale Materie, wie wir sie von Sternen, Planeten und unserer täglichen Umgebung her kennen, kann es sich bei dieser dunklen Materie nicht handeln, denn das würde zu Widersprüchen mit der gut verstandenen Entstehung der chemischen Elemente beim Urknall führen. Es müsste sich bei dem rätselhaften Stoff also um bisher unbekannte Elementarteilchen handeln.

Wenig befriedigend - und völlig falsch, meinen Cooperstock und Tieu. Für die beiden Forscher ist die dunkle Materie schlicht ein Rechenfehler: Niemand habe vor ihnen die Bewegung der Sterne in den Galaxien wirklich im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie berechnet: «Die Astronomen haben sich darauf verlassen, dass die relativistischen Effekte vernachlässigbar sind.» Ein fataler Irrtum, denn dadurch, dass die Sterne selbst kollektiv das Schwerefeld erzeugen, in dem sie sich bewegen, komme es zu einer überraschenden Verstärkung dieser Effekte - die zum Zusammenhalt der Galaxien beitragen und so die dunkle Materie überflüssig machen.

Und was ist mit der dunklen Energie? Ende der 1990er Jahre zeigte die Beobachtung ferner Sternexplosionen (der «Supernovae»), dass die Expansion des Kosmos nicht, wie bis dahin vermutet, durch die Schwerkraft langsam abnimmt, sondern sich im Gegenteil sogar beschleunigt. Irgendein unbekannter Einfluss - von den Forschern in Analogie zur dunklen Materie dunkle Energie getauft - scheint also die Expansion des Universums zusätzlich anzutreiben.      .


  

«Die dunkle Energie scheint die dominierende Komponente unseres Kosmos zu sein - aber wir haben keine überzeugende theoretische Erklärung dafür», beschreibt Kolb das Dilemma der Kosmologie. Seine simple Lösung: Es gibt keine dunkle Energie, die beschleunigte Expansion ist eine Illusion, verursacht letztlich durch die gerade von WMAP bestätigte Aufblähung des Kosmos in der ersten billionstel Sekunde nach dem Urknall.

Die modernen «Stringtheorien», in denen die Grundbausteine der Materie vibrierende, höherdimensionale Energie-Fäden sind, behaupten, dass die heutigen Naturkräfte in den ersten Sekundenbruchteilen des Kosmos aus einer einzigen Urkraft hervorgegangen sind. Dieser Vorgang setzte eine unvorstellbare Menge an Energie frei und trieb damit die gewaltige Aufblähung (engl. Inflation) des Kosmos an.

Die Inflation hinterliess Spuren in der kosmischen Hintergrundstrahlung, einer Art Echo des Urknalls. Und diese Hintergrundstrahlung wird von WMAP seit 2001 vermessen. Entstanden ist die Strahlung zu einer Zeit, als der Kosmos gerade einmal 400'000 Jahre alt war. Zu diesem Zeitpunkt sank die Temperatur im All unter 3000 Grad - aus dem heissen, bis dahin undurchsichtigen Plasma wurde plötzlich durchsichtiges Gas, in dem sich elektromagnetische Strahlung frei ausbreiten konnte. Seither ist die Hintergrundstrahlung durch die Expansion des Weltraums stetig weiter abgekühlt, heute liegt ihre Temperatur noch 2,7 Grad über dem absoluten Nullpunkt.

Rätsel dunkle Energie

Die permanent aus allen Richtungen zu uns kommende Strahlung ist gleichsam ein Fingerabdruck des Urknalls. Aus ihrem von WMAP kartographierten Muster, minimalen Temperaturschwankungen, können die Astrophysiker ablesen, wie genau der Urknall verlaufen ist - und damit auch die inflationäre Phase nachweisen.

Die geradezu explosive Aufblähung des Kosmos hat zu Schwingungen des Raumes geführt, sogenannten Gravitationswellen, wie sie von der allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins vorhergesagt werden. Die bisherigen Analysen vernachlässigen, so Kolb, dass auch diese Gravitationswellen an der Expansion des Kosmos teilnehmen. Insbesondere Schwingungen mit grossen Wellenlängen können dadurch in unserer kosmischen Umgebung den Eindruck einer beschleunigten Expansion hervorrufen. «Die dunkle Energie wäre also nur eine Illusion, hervorgerufen durch unser Unvermögen, das ganze Bild zu erfassen», so Kolb.

Die Bestätigung der Inflation durch WMAP ist also eine gute Nachricht für Kolb und seine Mitstreiter. Einerseits. Andererseits hängen die Temperaturschwankungen der Hintergrundstrahlung auch von den Ingredienzien des Kosmos ab: 22 Prozent dunkle Materie, 74 Prozent dunkle Energie, so die Standard-Interpretation der WMAP-Daten. Die meisten Wissenschafter halten deshalb am bisherigen Standardmodell mit seinen mysteriösen dunklen Zutaten fest. «Wenig überzeugend» findet etwa der britische Royal Astronomer Martin Rees, einer der angesehensten Kosmologen unserer Zeit, die Ideen von Kolb, Cooperstock und ihren Teams. Denn, so sein Argument, die Messungen der Sternbewegungen und der Sternexplosionen einerseits und die Analyse der Hintergrundstrahlung andererseits seien voneinander unabhängige Verfahren. Da wäre es doch ein grosser Zufall, wenn beides das gleiche Ergebnis für die dunkle Materie und die dunkle Energie lieferte.

Vielleicht kann erst die europäische Sonde Planck eine endgültige Antwort darauf liefern, wie verrückt unser Universum wirklich ist. «Wir erwarten eine um das 30fache verbesserte Genauigkeit gegenüber WMAP», erklärt der an der Entwicklung von Planck beteiligte französische Astrophysiker Jean-Michel Lamarre. Planck soll 2008 ins All starten. Doch Cooperstock sieht neuen Messungen gelassen entgegen: «Das Universum hat sicherlich noch einige Überraschungen parat.»

Gottes Wirken - oder eines von zahllosen Universen im «Multiversum»?

Von jeher suchen die Naturwissen- schafter nicht nur zu ergründen, wie die Naturgesetze lauten, sondern auch, warum sie gerade so sind, wie sie sind. Bei ihrer Suche auf eine Antwort nach diesem Warum stiessen sie in den vergangenen Jahrzehnten auf ein verwirrendes Phänomen: Die Naturgesetze scheinen geradezu darauf abgestimmt, die Entstehung von Leben in unserem Kosmos zu ermöglichen.

Hätte sich das Universum rascher ausgedehnt, so hätte sich die Materie nicht zu Galaxien und Sternen verdichten können. Wäre die Expansion aber langsamer verlaufen, so wäre das Universum in sich zusammengestürzt, bevor Leben überhaupt hätte entstehen können.


 
 

Wäre die Schwerkraft ein wenig stärker oder schwächer, würde es keine Sterne geben, in denen durch Kernfusion Elemente wie Sauerstoff und Eisen entstehen, die Grundbausteine des Lebens. Auch wenn die Kräfte in den Atomkernen zu schwach wären, gäbe es keine Kernfusion, wären sie dagegen zu stark, so würde es im Kosmos keinen Wasserstoff mehr geben, folglich kein Wasser und wiederum kein Leben.

Für einen religiösen Menschen mag sich in dieser kosmischen Feinabstimmung das Wirken Gottes offenbaren. Doch für Naturwissenschafter ist diese Antwort unbefriedigend. Viele Forscher vertreten heute die These, unser Universum sei nur eines von unzähligen Universen in einem grösseren «Multiversum».


 
 

Tatsächlich will die Stringtheorie - ein Versuch, alle Naturkräfte unter dem Dach einer einheitlichen Theorie zu vereinen - voraussagen, dass es beliebig viele Universen mit unterschiedlichsten Naturgesetzen gibt.

Die meisten dieser Universen wären lebensfeindlich. Eine Kombination von Naturgesetzen, die Leben erlaubte, wäre dagegen eine seltene Ausnahme. Doch egal wie selten - ein intelligenter Beobachter müsste sich zwangsläufig in einem solchen Ausnahme-Universum aufhalten. Und würde sich dann, wie wir, über die Feinabstimmung der Naturgesetze in seinem Kosmos wundern. R. Kayser