Neue Zürcher Zeitung

FORSCHUNG UND TECHNIK

Mittwoch, 13. April 2005 · Nr.85


Der erste Hominide lebte in Zentralafrika

Vorläufiges Ende der Kontroverse um ein Fossil

Im Sommer 2002 erschien im Wissenschaftsmagazin «Nature» ein aufsehenerregender Artikel: Das internationale Forscherteam um Michel Brunet von der Universität Poitiers beschrieb ein sieben Millionen Jahre altes Schädelfossil, das die Gruppe ein Jahr zuvor in der Dschurab-Wüste im zentralafrikanischen Tschad geborgen hatte. Für Aufsehen sorgte der Fund, der den wissenschaftlichen Namen Sahelanthropus tchadensis und den Kosenamen Toumaï (in der Lokalsprache «Lebenshoffnung») erhielt, gleich aus mehreren Gründen. Zum einen repräsentiere er - so seine Entdecker - den mit Abstand ältesten Hominiden, der jemals gefunden worden sei, mithin den ersten Menschen. Zum anderen überraschte der Fundort Toumaïs im Herzen Afrikas, stammten doch bisher fast alle fossilen Reste früher Hominiden aus dem östlichen und südlichen Afrika. Und schliesslich lebte dieser uralte Hominide im Gegensatz zu seinen ost- und südafrikanischen Verwandten nicht in einer offenen Savannenlandschaft, sondern in einem üppigen Galeriewald am Rande des jungtertiären Mega-Tschadsees. Damit geriet die Annahme ins Wanken, das Schlüsselmerkmal der Hominiden – der aufrechte Gang – habe sich in offenem Buschland entwickelt.

Neue Funde und virtuelle Rekonstruktion

Zweifel an Brunets Interpretation liessen nicht lange auf sich warten. Der Schädel sei nicht einem Hominiden, sondern einem Affen zuzuordnen, schrieben Milford Wolpoff von der University of Michigan und weitere Paläoanthropologen drei Monate später in «Nature». Vor allem deute nichts darauf hin, dass Sahelanthropus aufrecht gegangen sei. Vielmehr zeigten die am Schädel erkennbaren Ansatzstellen für die Nackenmuskulatur, dass sich Toumaï wie Schimpansen oder Gorillas meistens auf allen vieren fortbewegt habe. In seiner Replik hielt Brunet jedoch an seiner Annahme fest. Als Argument führte er besonders die steile Form des Gesichtsschädels und die Bezahnung ins Feld. Bei Hominiden beissen die Zähne aufeinander, während bei Affen vor allem die Eckzähne scherenartig übereinander greifen und sich dabei gegenseitig abwetzen. Brunet entdeckte an den Zähnen von Toumaï keinerlei Schleifspuren, seine Kontrahenten hingegen wollten auf Fotos solche Spuren gesehen haben. Interpretation stand gegen Interpretation.

Doch letzte Woche erschienen – wiederum in «Nature» – zwei Arbeiten, die der Debatte um die evolutionsbiologische Stellung von Sahelanthropus tchadensis ein vorläufiges Ende setzen dürften. In der ersten berichtet Brunets Team von neuen, der gleichen Art zugeordneten Funden aus dem Tschad, darunter zwei noch teilweise bezahnte Unterkiefer. In der zweiten präsentieren die Zürcher Anthropologen Christoph Zollikofer und Marcia Ponce de León eine Rekonstruktion des drei Jahre zuvor beschriebenen Schädels.


Beide Arbeiten stärken die Annahme, dass es sich bei den sieben Millionen Jahre alten Fossilien tatsächlich um Hominidenreste handelt.

Hinweise auf aufrechten Gang

Mittels eines computergestützten Verfahrens gelang es den Zürcher Forschern, den deformierten Schädel virtuell so wiederherzustellen, dass seine Morphologie einerseits mit jener anderer Hominiden, andererseits mit der des Schimpansen verglichen werden konnte. Wie diese Arbeiten zeigen, überwiegen bei Toumaï trotz seinem kleinen, eher schimpansenhaften Gehirn gesamthaft die Hominidenmerkmale. Besondere Beachtung verdient, dass das (am Fossil nicht erhaltene) Hinterhauptsloch wie beim modernen Menschen nach unten orientiert gewesen sein muss, Toumaï also höchstwahrscheinlich aufrecht gegangen ist. Zusätzliche Argumente zugunsten der Hominidennatur von Sahelanthropus liefern die neu gefundenen Zähne: Sie zeigen keine Schleifspuren, sondern nur Abnützungserscheinungen an den Spitzen – wie das für Hominiden zu erwarten ist.

Toumaï darf also als der mit Abstand älteste aller bekannten Hominiden gelten. Er ist doppelt so alt wie «Lucy», jener in den 1970er Jahren als «missing link» zwischen Affen- und Menschenvorfahren gefeierte Australopithecus afarensis, und eine Million Jahre älter als ein anderer weit zurückreichender Hominide, Orrorin tugenensis, dessen fossile Reste 2001 in Kenya geborgen wurden. Laut Brunet müssen damit die Vorstellungen über die frühesten Kapitel der Hominidenevolution deutlich revidiert werden: Die Trennung zwischen den Vorfahren von Menschenaffen und Hominiden, bisher auf fünf bis sechs Millionen Jahre veranschlagt, verschiebt sich zeitlich rückwärts. Zudem entwickelte sich der aufrechte Gang gemäss der «Tschad-Story» in einer von reichhaltiger Vegetation bedeckten Landschaft, nicht im offenen Grasland. Und schliesslich waren frühe Hominiden auf dem afrikanischen Kontinent viel weiter verbreitet, als das die «East Side Story» mit ihren Funden aus dem östlichen und südöstlichen Afrika vermuten liess. Offen bleibt, ob es sich bei Toumaï um einen direkten Vorfahren des modernen Menschen handelt oder ob er – was wahrscheinlicher ist – auf einem der zahlreichen blinden Seitenzweige des buschförmigen Hominidenstammbaums anzusiedeln ist.

Sibylle Wehner-v. Segesser

Quellen: Nature 434, 752-755; 755-759 (2005).